Mein Bücherbord März 22

0

„Das Nichts ist ungewohnt nah”

Dumont, 624 Seiten, 28 EUR

 Ein echter Houellebecq und doch mehr – das ist der Roman „Vernichten” (Dumont, 624 Seiten, 28 EUR). Einer der wichtigsten französischen Autoren der Gegenwart, Michel Houellebecg, hat mit einer illustren Reihe von Büchern Ruhm erlangt. Sein neuestes, oben genannt, ist spannend, weil es den bekannten Facetten dieses Erzählers überraschende hinzufügt. Wieder erweist sich Houellebecq als ein scharfsinniger Beobachter des gesellschaftlichen und politischen Lebens in seinem Heimatland und verlängert es als kühner „Hochrechner” in die nahe Zukunft. Schon in der vierten Zeile des Romans verrät er: „Das Nichts ist ungewohnt nah.” Erzählt wird vom Wahlkampf um die französische Präsidentschaft 2027. Flankiert wird er durch merkwürdige und virtuelle Anschläge. Als Gefahr droht – natürlich – der Untergang des Abendlandes, die Islamisierung Europas. Die Demokratie läuft Gefahr zwischen rechts- und linksextremistischen Walzen zermahlen zu werden. Antagonist Paul, ein ministerieller Spitzenbeamter, der einen Kandidaten coacht, erlebt Intrigen, Verleumdungskampagnen und Korruption hautnah mit. Ja, das Nichts ist ungewohnt nah. Aber anders als in früheren Büchern weiß oder ahnt Houellebecq einen Ausweg. Es ist der Rückzug in die Familie. Fast idyllisch gelingen ihm Szenen der Fürsorge Pauls für den mit Krebs auf den Tod wartenden Vater und Einblicke in ein personen- und konfliktreiches Familienleben. So mutiert der anfängliche Politthriller im Laufe der über 600 Seiten zu einem ausgewachsenen Familien- und Eheroman.

Aufbau, 344 Seiten, 22 EUR

Noch so ein Zukunftsbild. Oder ist es schon Gegenwart? Philipp Winkler beschreibt es in seinem Roman „Creep” (Aufbau, 344 Seiten, 22 EUR). Das Wort Creep steht für eine Person, die sich seltsam, unheimlich oder angsteinflößend verhält. In Zeiten von Internet und Darknet sind dafür Tür und Tor geöffnet. Das nutzen Fanni in Berlin, die bei einer Firma für Überwachungskameras arbeitet, und Junya in Tokio. Während sich Fanni virtuell in das Familienleben von Kunden einloggt, schlägt Junya ganz reell Menschen, die es, wie er glaubt, verdient haben, mit einem Hammer den Kopf ein. In ihnen hat Winkler wie in seinen ersten Romanen (Hooligans und Schausteller) wieder wahre Außenseiter gefunden. In der Gesellschaft gemobbt, missachtet, isoliert, ist ihnen das Netz zur Heimstätte geworden. Winkler breitet in zwei Erzählsträngen, die leider keine Verbindung finden, zwei mögliche Formen von Vereinsamung und der Verlagerung des Lebens in den virtuellen Raum aus. Gewöhnungsbedürftig sind seine Anwendung von Anglizismen und der oftmalige Gebrauch von Elementen der IT-Sprache.

Insel, 312 Seiten, 24 EUR

Dokumentarisches kann wunderbar erzählt werden. Nicht zum ersten Mal beweist dies Autorin Dagmar von Gersdorff mit ihrem Buch „Die Schwiegertochter. Das Leben der Ottilie von Goethe” (Insel, 312 Seiten, 24 EUR). Wie sie nach akribischer Recherche schier jede Minute im Leben dieser Frau ausleuchtet, das nötigt Bewunderung ab. Das ist ein seriöser Liebesroman ebenso wie ein exaktes Sitten-, Zeit- und Kulturbild aus dem 18./19. Jahrhundert. In gleichem Maße, wie Ottilies Liebe zu Goethe-Sohn August erkaltet, wächst eine lebenslängliche Leidenschaft auf Gegenseitigkeit zum Schwiegervater. Auch vom lockeren Lebenswandel Ottilies nach dem Tod des Dichters erzählt Dagmar von Gersdorff. Mit vielen Liebschaften und mehreren Ehen versuchte sie Alltagsfrust zu kompensieren. Dass sich ihre bigotte Umwelt daran störte, leuchtet ein. Mehr noch aber imponiert, wie Ottilie die damalige Kulturprominenz anzog und auch Fragen der Gleichberechtigung aufwarf. All das erfahren wir mit einer Lockerheit, die die Grenze zwischen Sachbuch und Belletristik sprengt.

Aufbau, 200 Seiten, 24 EUR

In „Monsieur – wir finden uns wieder. Briefe 1968 – 1984” (Aufbau, 200 Seiten, 24 EUR) sind Briefe, Texte, Postkarteninhalte, Telegramme veröffentlicht, die die DDR-Großautoren Christa Wolf und Franz Fühmann einander gesandt haben. Der Titel fußt auf der Schlusszeile eines Gedichts, das Christa Wolf für Fühmann im Dezember 1976 geschrieben hatte. Sie versuchte damit, etwas Licht in eine dunkle Zeit für Kunst, Kultur und Literatur zu bringen, unter der sie beide wie viele DDR-Bürger litten. In ihren Briefen machten die beiden ihrem Herzen Luft. Dabei gerät Fühmann häufig in Zorn über eine verfehlte Kulturpolitik, Christa Wolf versucht, ihn zu beruhigen. Man erfährt weniger Privates als Notate über staatliche Repressionen und andererseits Momentaufnahmen zweier unterschiedlicher Schaffensprozesse. Texte von Christa Wolf über Fühmann und ausführliche Kommentierungen von Herausgeberin Angela Drescher vertiefen das Verständnis für Leben und Werke der beiden Dichter und die Distanz zur Einschränkung der Freiheit der Kunst.

Klaus Wilke

 

Teilen.

Hinterlasse eine Antwort