Coronas verschoben

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2020 war das erste Jahr seit langem, in dem die Normalwelt noch verrückter war als die Musikwelt

Die Sorgen, die Deutschland Anfang 2020 hatte, hätte es sicher gern auch Ende 2020 gehabt. Zum Beispiel, dass ein altes Trinklied, gesungen von einem Rundfunkkinderchor für Stimmung sorgt, weil es zum zweiten Mal umgedichtet wurde. Als aus der Oma, die einst im Hühnerstall Motorrad fuhr, nachdem zuvor ihr klein Häuschen versoffen worden war, von den Gören eine Umweltsau gemacht wurde, war der Skandal da: erst in der Twitterblase, dann in den WDR-Redaktionsräumen und dann auf der Straße. So ist das heute: Was der Rock ’n’ Roller nicht mehr schafft, das schafft ein Kinderchor.

Oder eine Horde Tenniszuschauer bei einem Grand-Slam-Turnier. Singen, grölen, den Gegner ausbuhen: Bei den Australian Open kam es zu Tumulten auf der Tribüne eines Außenplatzes, weil eine Griechin ihr Zweitrundenmatch gegen eine Japanerin gewonnen hatte und eine Gruppe von 15 bis 20 griechischen Fans so austickte, dass sie vom Sicherheitspersonal von der Anlage verwiesen wurde. Ihr Vergehen: Gesänge, Gebrüll, Pfeifen, Klatscheinlagen, Freudentaumel „around the clock“. Praktisch wie bei einem Konzert (oder Fußballspiel). Da dachten sich die australischen Tennis-Cops, so geht das natürlich nicht und sorgten für eine Schutzmaßnahme, die bald auf der ganzen Welt für Konzerte (und Fußballspiele) gelten würde, auch in der Lausitz: Die Aussperrung von Zuschauern von Spiel, Sport und Unterhaltung.  

Das gilt auch für Coverbands wie Letz Zeppelin, die nun erst im Oktober 2021 in Cottbus auftreten werden.  Dabei wäre 2020 das Feierjahr für alle Zeppelin-Freunde geworden, hatte die Band a.D. doch nach einem langjährigen Urheberrechtsstreit von einem US-Berufungsgericht bestätigt bekommen, dass ihre legendäre Ballade „Stairway to Heaven“ kein Plagiat ist. Gitarrist Jimmy Page (76) und Sänger Robert Plant (71) hatten die Vorwürfe eh immer als lächerlich abgetan. Sie kannten so was ja auch schon, schließlich hatten sie früher bereits Plagiatsvorwürfe gegen ihren Hit „Whole Lotta Love“ am Hacken (und außergerichtlich geklärt).

 Während das Konzertleben ab März coronabedingt arg runterfuhr, fuhren die ganz spielwütigen Musiker ihre Improvisation hoch und dachten sich diverse Live-Auftrittsmöglichkeiten aus: Picknick-Konzerte, Balkon-Konzerte oder Fenster-Konzerte wie in Potsdam, wo sich der Musiker Robert Bernier selbst in seinem Atelier einsperrte und aus dem Fenster heraus spielte, wenn ihm Passanten Lebensmittelspenden ins Körbchen legten. Quasi eine Art Rapunzelpop.

 Rammstein-Sänger Till Lindemann wiederum zeigte sich bei seinem Solo-Konzert im März in Moskau bühnenkreativ, als er in einer riesigen Plaste-Bubble auftrat, wofür ihn die Fans nicht plastikeingeschweißt kuscheleng vor der Bühne bestaunten. Der Burner unter den Liveshows waren 2020 aber sicher die Autokonzerte, so wie das von Nena im brandenburgischen Schönefeld. (Foto) In Sichtweite zum noch nicht geöffneten BER ließ sie natürlich auch ihre „99 Luftballons“ fliegen. Derweil  tourte das Landespolizeiorchester quer durch Brandenburg, um Patienten in Krankenhäusern (unter anderem in Cottbus) aufzumuntern, die wegen der Corona-Krise keinen Besuch empfangen dürften.

 Schneller als die Polizei erlaubt, baut ja Tesla-Boss Elon Musk seine E-Autofabrik in Brandenburg und wo er schon mal auf Speed war, brachte er auch gleich noch eine Super-Idee hervor:  eine „Mega-Rave-Höhle“ unter seiner Gigafactory, samt „einem epischen Soundsystem und Woofern von der Größe eines Autos“. Super Sache, beschieden ihm innerhalb von fünf Stunden 90 Prozent von 350.000 Twitter-Usern. Überhaupt war es das Jahr der Superideen, denn in der Krise wird der Mensch erfinderisch, wie schon Oma Umweltsau einst sagte.

 Eine der tollsten Ideen anno 2020 hatte ein Fitnessstudio-Chef in Polen, als ihm sein Laden wegen der Pandemie dicht gemacht wurde. Er benannte ihn einfach um in „Kirche der Sporttüchtigen“. Das hätten ihm doch auch die Betreiber von Clubs und Konzerthallen doch nachmachen können. Zum Beispiel „Kirche der Popstar-Gläubigen“. Ob das im Gladhouse funktioniert hätte, wo selten Popstars hinkommen, weiß man natürlich nicht.

 Clever zeigte sich auch die Berliner Punkrockband ZSK, die Christian Drosten den Song „Ich habe besseres zu tun“ widmete. In dem wehrt der Starvirologe als Zeichentrickfigur ganz allein die Coronaviren ab. Die Unterstützeridee sei aus einer Bierlaune heraus entstanden, verlautete von ZSK.

 Und was machte The American King of Great Ideas? Er machte Wahlkampf, um das Weiße Haus weiterhin bewohnen zu dürfen, und zeigte sich bei den Big Shows vor seinen Fans als solidarischer Mensch für coronageplagte Musiker. Super-Donald dachte sich offenbar: Wenn die Bands nicht auftreten können, helfe ich ihnen wenigstens mit Tantiemen-Einnahmen, in dem ich ihre Songs spiele. Leider fanden das weder die Rolling Stones, noch Neil Young, Bruce Springsteen, Phil Collins  und die Erben von Tom Petty cool. Sie verwahrten sich gegen die unerwünschte Tantiemen-Spende von Mister Fake News. 

 Apropos, eine hübsche Gibt’s-doch-gar-nicht-Geschichte spendierte uns auch ein kleines Label aus Hamburg. Sie kam zusammen mit dem Song „Ich, Sigmund Jähn“ aus dem hohen Norden. Das Lied ist dem ersten und einzigen DDR-Raumfahrthelden gewidmet. 1978 umrundete er als Kosmonaut in einem sowjetischen Sojus-Raumschiff als erster Deutscher die Erde. Über 42 Jahre später schwebte er nun durch die YouTube-Röhre, begleitet vom poppigen Gesang einer jungen Frau. Das Lied war bisher nicht bekannt, weil über 40 Jahre verschollen, bis es kürzlich in Hamburg wieder auftauchte. Wie die eine Nachfrage bei Tapete Records ergab, hätten sie vor Jahren auf einem Flohmarkt ein altes Tonband mit der Ostmarke „ORWO“ gefunden, aber erst in der Corona-Freizeit ein Abspielgerät aufgegabelt, um es abzuhören. Die Musik fanden sie super, aber der auf die Tonbandschachtel gekritzelte Name „Charlie Keller“ hätte ihnen nichts gesagt. Also habe man einen Aufruf über Facebook gestartet und viele Zuschriften bekommen. Ein Informant glaubte, Charlie Keller sei ein Pseudonym von Nina Hagen, ein anderer schrieb, die Person hätte jetzt eine Pension im Spreewald. Das wiederentdeckte Popgirl Charlie Keller – heute eine Gastwirtin im Spreewald!

 Das stimmt wohl doch nicht, aber es bleibt mysthisch. Das Ergebnis der zusammengetragenen Informationen ist jedenfalls irre schön, zu schön, um wahr zu sein: Hinter dem Pseudonym Charlie Keller steckt angeblich eine gebürtige Wattenscheiderin, die als überzeugte Kommunistin in die DDR ging, wo sie wegen ihrer Aufmüpfigkeit von der Musikhochschule flog. Angeblich ist sie kurz vorm Mauerfall zurück in die BRD ausgebürgert worden, ihr Verbleib dort aber nicht bekannt. Das einzige Überbleibsel ihres spannenden Lebens in der DDR ist ihr um 1978 aufgenommener „Sigmund Jähn“-Song.

 Tja, dolles Ding, aber nichts ist so unglaublich wie der Lauf der Dinge im Kosmos der Musik. Das erfuhren Anfang des Jahres auch die Ermittlungsbehörden in Japan, denen der unter Anklage stehende Managerpromi Carlos Ghosn abhanden kam. Der Ex-Boss des französisch-japanischen Autobündnisses Renault-Nissan-Mitsubishi war gegen Kaution auf freiem Fuß und floh filmreif (quasi Olsenbande-mäßig) außer Landes: in einer Kiste für Musikinstrumente! Zwei Amerikaner sollen ihm geholfen haben, auf diese Art zum Flughafen zu gelangen, wo ein Privatjet die zwei unkontrollierten Musikkoffer aufnahm und samt illegaler Fracht ausflog. Da hatte die Ganoven natürlich Glück, dass das Flugwesen wegen Corona noch nicht am Boden lag und die kreative Nummer gut über die Bühne gehen konnte.  

Seither liest man aus dem Musikwesen häufig weniger lustige Meldungen. Freunde des skurrilen Humors dürften allerdings im Juli bei dieser Mitteilung aufgehorcht haben: „Hallo, liebe Medienpartner, das Konzert von The Coronas (eine irische Indieband/d.R.) ist aufgrund der behördlichen Bestimmungen auf 2021 verschoben.“ Coronas verschoben, oh ha.

Thomas Lietz

 

 

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