Das Geheimnis ihrer guten Manieren

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Wenn eine Dame an den Tisch tritt, erhebt sich der Herr und setzt sich erst, nachdem die Frau sich niedergesetzt hat. Respektvolles Verhalten, das am ungebildeten Nachbartisch belustigt registriert wird. Ich aber bin noch aufgewachsen mit dem Wissen, dass man bei Tische Kartoffeln nicht mit dem Messer schneidet, dass man überhaupt die Gabel teilen lässt, was eine Gabel zu teilen vermag, ehe man ein Messer einsetzt. Gab es Fisch, lag eine zweite Gabel am Teller, weil unser silbernes Essbesteck über ein spezielles Fischmesser nicht verfügte. Meine Frau, die einer nachfolgenden Generation angehört, hält sowas schlicht für Quatsch. Wir haben uns immerhin darauf verständigen können, dass in Gegenwart des Kindes ein Messer nicht abgeleckt wird. Jedenfalls nicht, wenn ich dabei bin.

Ich hatte zu keinem Zeitpunkt vor, meine Frau in irgendeiner Weise erziehen zu wollen, auch wenn ich schwer ertrage, dass sie beim Mittagessen ihre WhatsApp-Nachrichten liest und Mails beantwortet.  Ich gehöre einem Jahrgang an, der bei klarem Verstand erlebt hat, dass die sozialistische Idee sympathisch, der Mensch jedoch nicht gut ist, dass die Erziehung des Menschen zu vernünftigem Handeln nicht funktioniert, ja, dass nicht einmal die eintretende Katastrophe die Menschheit dazu bewegen kann, ihr Verhalten zu ändern – ich schweife aus. Natürlich dreht sich in mir immer noch alles, wenn meine Frau nach dem Messer greift, um die fluffigen Erdäpfel auf dem Teller zu vierteln oder mir das Brotmesser mit der Spitze nach vorn zureicht.  Aber es gibt wichtigeres im Leben, als durchzusetzen, was man selbst für richtig hält. Immer geht es nur darum,  Mindest-Kompromisse zu erzielen, die den jeweils anderen atmen lassen. Das gelingt meiner Frau übrigens auch. Wenn sie in der Gaststätte von der Toilette an unseren Tisch zurückkommt und ich mich dann von meinem Platz erhebe und verharre, bis sie sich setzt, wird sie ein bisschen rot, schaut verlegen nach rechts und links, aber ist stolz:

Er hat es wirklich wieder für mich getan.

Hellmuth Henneberg

“Die Geheimnisse meiner Frau”  (mit Illustrationen von Antje Püpke) erscheint im Frühjahr 2021 bei copyworxx (www.copyworxx.de)

 

 

                      

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