Der musikalische hermann-Jahresrückblick:

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Lockdown als Session

Das Jahr 2021 hatte immer noch die Seuche, aber die Musikwelt wusste manchmal auch kreativ mit ihr umzugehen

1.April war 2021 bereits zu Jahresanfang, jedenfalls in Berlin. Dort verkündete ein Radiosender zwischen lauter soften Hits: „Corona ist ausgerottet“. Die Bundesregierung sei „begeistert“ und berate über eine bundesweite „gesetzliche Feierwoche“. Das war als Satirespaß gedacht, allerdings sind die Zeiten für Satire und Spaßverstehen momentan nicht die Besten. Kurz und gut, viele Hörer nahmen die Sache Ernst. Die Stadtregierung musste die „aufgeregten Bürger und Bürgerinnen“ mit der unguten Nachricht konfrontieren, dass die Partywoche ausfalle und weiterhin Coronamaßnahmen gelten würden.

 Hätte ein Cottbuser Sender eine Aktion „Zeitreise ins Jahr 2022“ gestartet und zum Beispiel vermeldet, dass ein Cottbuser und eine Bautzenerin 2022 den blamablen Ruf Deutschland beim Eurovision Song Contest aufpolieren wollen, wäre es wohl auch nicht geglaubt worden. Die Nachricht stimmt aber tatsächlich. Jordan Hanson und Doro Farkas sahen sich durch den Erfolg ihres Songs „This Style“ (Top 10 der Amazon-Charts) ermutigt, das Ziel Europa anzusteuern.

 Wenn im Mai 2022 hoffentlich wirklich die große Normalität einkehrt, dürfte vielleicht auch ein erstes Resümee in puncto Corona-Musik gezogen werden. Ist ja viel passiert in künstlerischer Hinsicht. Elton John zum Beispiel hat die auftrittslose Zeit für ein neues Album genutzt. Es heißt passenderweise „The Lockdown Sessions“ und vereint Kollegen wie Miley Cyrus, Stevie Nicks und Stevie Wonder. Manchmal sind sie über Zoom zusammen gekommen, manchmal wurde unter strengen Hygienevorschriften im Studio aufgenommen.

 Die Pandemie hat auch in Augsburg zu Kreativität geführt. Ein 21-jähriger YouTuber experimentierte dort auf seine Art mit Musik. Er hat sich unberechtigt in Homeschooling-Unterrichtsstunden eingewählt, um die dann mit Provokationen zu stören. Bei seinen Angriffen spielte er laute Musik ab und provozierte die Lehrer mit Gesängen und Zwischenrufen. Die YouTube-Videos, die der junge Kreative machte, sahen allerdings auch Cybercrime-Ermittler, die ihn prompt mit Durchsuchungsbefehl in seiner Wohnung beehrten.

 Ob sich der YouTuber damit für die Resozialisierung im TV-Unterhaltungswesen qualifiziert hat, wüsste vielleicht Dieter Bohlen. Allerdings ist der seinen Posten als Chefjuror von „Das Supertalent“ und von „DSDS“ 2021 los geworden. RTL hat nach fast zwanzig Jahren die Jurorenteams ausgetauscht und dabei auch vorm „Pop-Titan“ nicht Halt gemacht.

 Nicht groß gefackelt hat man auch in Südkorea, als es um die Verdammung langjähriger Mega-erfolgreicher Musiker ging.  Der Hit „Gangnam Style“ des Rappers Psy fiel einer neuen Richtlinie zum Corona-Infektionsschutz zum Opfer. Die besagte, dass in den Fitnessstudios in der Hauptstadt Seoul Musik mit einem Tempo von mehr als 120 Beats per Minute nicht mehr beim Gruppentraining erlaubt ist. Die Idee hinter der behördlichen Regelwut: Die Besucher von Fitnessstudios würden ohne den beatlastigen Support nicht so heftig atmen und schwitzen und dadurch die Verbreitung des Virus’ erschwert. Ob das Virus auf den Trick reinfiel oder ihn durchschaut hat, ist nicht bekannt. Nur, dass die sportfreudigen Südkoreaner die Sache ziemlich beknackt fanden, auch weil Laufbänder nicht schneller als sechs Kilometer pro Stunde sein dürften.  

 Möglicherweise hätten die Beamten in Seoul ja von Cottbus lernen können, dass man sogar Fahrradkonzerte unter Coronabedingungen veranstalten kann. Das diesjährige Fahrradkonzert stand unter dem Motto „Industriekultur“ und war hauptsächlich eine Open-air-Veranstaltung, sprich ein Etappenrennen mit musikalischen Stopps und finalem Abschlusskonzert. Unter die Kategorie Sport & Musik fiel es trotzdem eher nicht. In der tummelten sich im Sommer dafür bekannte Herrschaften aus den Bereichen Fußball und Pop. Die Fußball-Europameisterschaft bescherte ganz besondere Momente der Musik. Das ging schon los mit dem offiziellen EM-Song, für den die UEFA niemand geringen als die U2-Stars Bono und The Edge auflaufen ließ. Auf den Tribünen gab es dann das Comeback des spanischen Duos Baccara. Zu verdanken war es den schottischen Fans, die ihren Song „Yes Sir I Can Boggie“ aus der 70er-Jahre-Plattenkiste gekramt hatten.

Auch in den Teamquartieren wurde viel gesungen, mit reichlich prominenter Beteiligung. Vor der Partie England versus Germany kam es sogar zu einer Art Supporter-Duell. Während sich die Three Lions von Ed Sheeran pushen ließen, erhielten die DFB-Kicker Besuch von Peter Maffay. Man kann dem Schlagerocker sicher einiges vorhalten, aber ihm deshalb das frühe EM-Ausscheiden der  Deutschen anzukreiden, ist definitiv zu billig.

 Für die beiden Musiker waren die nicht öffentlichen Kurzgigs natürlich eine gute Gelegenheit, überhaupt mal wieder aufzutreten, da Tourneen ja immer noch nicht möglich waren. Kollege Clueso durfte sogar kurz in den ARD-Tagesthemen singen, ergänzend zu einem Interview über die Krise der Livemusik. Wie man hört, soll die 2022 aber nun wirklich enden. Leider warten dann schon andere Probleme. In England klagt die Club-Branche bereits über fehlende Türsteher. Viele hatten sich in der Pandemie neue Jobs gesucht, der Brexit tut ein Übriges. Wenn der Mangel größer werde, könne das zu einer Bedrohung für die öffentliche Sicherheit werden, sagte der Chef der Night Time Industries Association.

 Apropos öffentliche Sicherheit. Über den notorischen Aufwiegler und US-Präsident a.D. Donald Trump wurde bekannt, dass er in seiner Amtszeit oft mit Musical-Melodien beruhigt werden musste. Seine frühere Sprecherin plauderte in einem Enthüllungsbuch Interna aus ihrem Job aus. So hätte ein Mitarbeiter des Weißen Hauses den Auftrag gehabt, Trump bei Wutausbrüchen beruhigende Musik vorzuspielen. Der „Music Man“ habe um Beispiel auf „Memory“ aus dem Musical „Cats“ gesetzt.

 Aber im Wahlkampf groß mit Stones-Titeln die eigenen Politfans bespielen. Wobei, die Rolling Stones sind ja doch gar nicht so eine große Nummer wie alle dachten, sondern einfach nur eine Blues-Coverband, wie ein prominenter Stones-Kenner aus alten Tagen wissen ließ. Kaum hatte Paul McCartney klargestellt, dass für die Beatles-Trennung einzig John Lennon verantwortlich war, räumte er die Legende von der greatest Rock’n’Roll-Band ever auch gleich noch ab. Mick Jagger nahm’s cool und die Band spielte einfach weiter ihr Bluescoverzeug auf ihrer ersten US-Tour ohne Charlie Watts.

 Verstorben ist auch Lou Ottens, eine weitere Legende der Musikwelt. Auch wenn kaum jemand seinen Namen kennt, seine Erfindungen haben das Musikhörerleben von Milliarden Menschen geprägt. Der niederländische Ingenieur gilt als der Vater der Kompaktkassette und der CD, die wichtigsten Tonträger in der Musikgeschichte neben der Schallplatte. Mit der Kassette selbst Musik aufnehmen und auch noch eigene Mix-Tapes zusammenstellen  – daran denken Heerscharen älterer Männer und Frauen wehmütig zurück. Vielleicht sogar zusammen, denn einige Mix-Tapes wurden zum  musikalischen Einstieg in eine langjährige Liebesbeziehung. Selbst wenn nicht, die Erinnerung an die Songs auf er ersten zusammen gestellten Kassette dürfte bei dem meisten geblieben sein. Auch die Cottbuser Musikszene musste in diesem Jahr Verluste hinnehmen. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen und Freunden von Peti Marasus, Matthias Kießling und Uli Perske.

Gunnar Leue

 

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