Der Berliner Aufbau Verlag konnte im vergangenen Monat auf 75 Jahre seines Bestehens zurückblicken. Zu den Publikationen, die er sich zu diesem Anlass selbst auf den Geburtstagstisch legte, gehört ein Gesprächsbuch: Gabriele Gysi & Gregor Gysi: Unser Vater” (Aufbau, 152 Seiten, 16 EUR). Der Journalist und versierte Interviewspezialist Hans-Dieter Schütt porträtiert in Frage und Antwort den Vater der beiden, der als Jude ein unbeugsamer Gegner des Faschismus, West-Emigrant und jahrelang als Illegaler in Deutschland lebte. In der DDR wirkte er u.a. als Leiter des Aufbau Verlages, als Kulturminister und als Botschafter beim Vatikan. Eine Karriere, die nie in die Spitzen der Politik führte. Schütt versteht es wieder, ein Leben mit farbigen Facetten aufzublättern, wobei sich sein Anekdotenschatz mit dem Humor seiner Gesprächspartner und deren Vater ergänzten. Sicher wirkt in der Zeitdarstellung zuweilen etwas, was Gabriele Gysi als „Die sanfte Kraft der Verklärung” bezeichnet.
Dieser Kraft entgeht wohl – und das in größerem Maße – Florian Heyden nicht. In seinem Buch „Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater” (edition ost bei Eulenspiegel, 350 Seiten, 24 EUR) zeichnet er das Leben des späteren SED- und DDR-Chefs in den Jahren zwischen 1900 und 1945 nach. Das hat durchaus seinen Reiz für den heutigen Leser. Heyden, 1980 geboren und heute als Manager in der Schweiz lebend, hat, um das Familien-Tabu zu brechen, für die Partei umfangreiche Nachforschungen angestellt und viele interessante Details gefunden, die bisher in keiner Biografie standen: Ulbricht und seine drei Frauen und Töchter, mit denen ihn nach Trennung und Scheidung immer viel verband; sein Unter- und Auftauchen in der Illegalität; die Jagd der westlichen Geheimdienste nach dem vermeintlichen Phantom. Der Urenkel zeichnet keine Ikone. Ulbricht ist ein Mann mit Ecken und Kanten. Er opfert sich für die Partei auf und hat trotzdem ein Herz für die Frauen.
Verlassen wir Politik und Historie und betreten den Bereich der Kunst. 2020 ist Beethoven-Jahr. Der große Komponist wurde vor 250 Jahren geboren. Albrecht Selge hat ihm einen recht originellen Roman gewidmet: „Beethovn” (Rowohlt Berlin, 238 Seiten, 22 EUR). Beethovn ist kein Druckfehler, sondern nur eine von vielen unzähligen Varianten der Schreibweise dieses Namens in seiner Zeit. So tritt er uns auch als Bethovn, Beethowen und sogar als Betthofen entgegen. Daraus folgt: Jeder hat(te). Eine Feststellung, die mit Selges Erzählweise zusammentrifft. Aus unterschiedlichen Perspektiven lässt er auf den Komponisten blicken. Manchmal muss man ihn auch suchen. „Beethoven war nicht da”, stellt gleich zum Anfang sein Bewunderer Schlösser fest. Aber Zeugen für seine Existenz sind uns Josefine, die Geliebte, der Dichter Franz Grillparzer und viele andere Zeitgenossen. Die Vielschichtigkeit des tauben, fast blinden und alkoholsüchtigen Genies ist anders kaum zu fassen. Eine spielerische, mal komische, mal traurige, aber immer intelligente Annäherung an einen großen Künstler.
Das macht auf andere Weise auch Robert Seethaler in seinem Roman „Der letzte Satz” (Hanser Berlin, 126 Seiten, 19 EUR). Der letzte Satz steht für den Abschluss von Gustav Mahlers letzter, seiner 9. Sinfonie und zugleich für sein Lebensende. Seethaler begleitet ihn auf seiner letzten Schiffsreise 1911 von New York zurück nach Europa. Todkrank auf dem Sonnendeck sitzend, sinnt er, in Wolldecken gewickelt, über sein Leben., über seine Tourneen, über seine verfehlte Beziehung zu seiner Frau Alma nach. Interessant die Erinnerung an Begegnungen mit Freud und Über seine Musik erfährt der Leser indes wenig. Da hat Seethaler vorgebaut. Dem Schiffsjungen, der ihn beflissen umsorgt, sagt Mahler, als jener etwas über seine Musik erfahren will: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald sich Musik beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ Ein schlitzohriger Kunstgriff des Autors, aber, mal ehrlich, zum Leben gehört das Schaffen, und da hat es sich Seethaler diesmal etwas zu leicht gemacht.
Klaus Wilke