Dreieckiges Endzeitland

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Auf der Reise zu einer Dystopie ohne Premiere: „Endland“ am Zittauer Hauptmann-Theater

Noch bis Samstagmorgen, kurz nach Elfe, waren sie Sachsens inoffizielle Kulturhelden: Dann traf auch sie der Bannstrahl der freistaatlich verfügten Absagen: die beiden Häuser des Gerhart-Hauptmann-Theaters. Dabei stand, neben – neben einer urst vollen „Tosca“ in Görlitz – in Zittau am 14. Märzabend vielleicht das spannendste Werk, geschaffen im größten Netzwerk, an: „Endland“ eine Dystopie nach dem Roman von Martin Schäuble – geboten in neuer Fassung vom hauseigenen Theaterjugendclub. 

Kurz zur heiklen Vorgeschichte: Der 12. März 2020, genau 12.12 Uhr, markiert den Anfang vom kursächsischen wie lausitzerischen Kulturkotau als vermutlich nützliche Verbeugung vorm jüngsten Coronavirus: An diesem Donnerstag, genau eine Woche bevor die ganze Republik ins künstliche Koma versetzt wurde, ward zuallererst die „9. Lange Nacht der Dresdner Theater“ abgesagt. Es folgte eine virologisch bedenkliche Kopfschüttelkette über weitere Entscheidungen im Halbstundentakt – bis hin zum lange durchhaltenden Staatstheater Cottbus am Freitagfeierabend. All das garniert mit unzureichenden Handlungsanweisungen seitens einer Politelite im verbalen Lampenfiebermodus. 

Nahezu locker verabschiedeten sich die beiden Dresdner Staatstheater als erste in ihre Corontäne – per Pressemitteilung noch als „Einigung“ mit Kultur- und Tourismusministerin Barbara Klepsch bezeichnet: „Der Staatsbetrieb Sächsische Staatstheater stellt den Spielbetrieb bis zum 19.04.2020 ein (Ende der Osterferien).“ Also gleich für ganze 38 Tage und „für alle Spielstätten von Semperoper und Staatsschauspiel“ und alle Veranstaltungen – also auch alle Einmietungen und den sogenannten „Führungsbetrieb“. Und das, obwohl noch am Vortag, hier gar per „Erlass“ (statt Dekret) alle Veranstaltungen bis zu hundert Leute ohne Auflagen und von 100 bis 1000 Personen mit recht strengen Bedingungen als „genehmigungsfähig“ eingestuft wurden. Aber: „Die Museen bleiben derzeit grundsätzlich geöffnet.“ Natürlich ohne Veranstaltungen – und genau für einen Tag.

Derweil gingen die Theater in Freiberg, Radebeul und auch im südbrandenburgischen Senftenberg bis Freitagmittag noch davon aus, ihre angesetzten und generalgeprobten Premieren am Sonnabend anbieten zu können. Auch Chemnitz und Leipzig ließen sich einen Tag mehr Zeit zur Absage – und zeigten mehr Publikumszuneigung wie Zuversicht (vorerst nur bis Karfreitag). Doch dann schlossen alle schnell nach und nach: Plauen fiel per Pressemail am Freitagnachmittag 14:08, Bautzen erst 16:44 Uhr.

Statt Premiere am 14. März ein letzter, plötzlich leicht illegaler Sonnenuntergang im Dreieck: in elf Minuten von Zittau über Polen ins Böhmische.
Foto: Andreas Herrmann

Politdrama in drei Akten – als Abgesang?

Ein politisches Drama in drei recht einfallslosen Akten, mit sich jeweils verschärfenden Daumenschrauben für alle Veranstalter, hinterließ nur einen einzigen rosa Hoffnungsschimmer – ganz hinten im tiefsten Osten: Die beiden Hauptmann-Theaterhäuser, an der ehemaligen Friedensgenze, die erst 2004 per feierlicher EU-Erweiterung symbolisch überbrückt wurde, spielen weiter. „Noch ist Polen nicht verloren“ heißt es nicht nur in der Nationalhymne unseres Nachbarlandes, sondern nun auch als einziger Standortvorteil. 

Also nichts wie hin, denn es könnte ja – wenn man die Hysterie und deren Dynamik einigermaßen kritisch beobachtet und als durchaus ernst gemeint bewertet – durchaus schon die letzte Premiere der Saison sein. Doch schon am Mittag ein Dämpfer: Just 11:43 Uhr meldet das Theater: „Aufgrund behördlicher Festlegungen zur Eindämmung des Coronavirus wird der Spielbetrieb des Gerhart-Hauptmann-Theaters ab sofort bis auf weiteres unterbrochen.“ Das war für lange Zeit die jüngste Pressemitteilung aus diesem Haus.

Ein kurzer Spontananruf bei der Zittauer Schauspielintendantin Dorotty Szalma bestätigt die betrübliche Nachricht, gebiert aber eine außergewöhnliche Chance: die eigentlich vorgeschaltene öffentliche  Podiumsdiskussion in kleinerer Runde mit dem Regieteam und der grünen Lausitzer Landtagsabgeordneten Franziska Schubert, inzwischen sogar Fraktionschefin, als flottes Achterinterview abzuhalten. So sitzen wir im leeren Theater in der vollen Kantine, wo der Jugendclub, am Vormittag aufgrund der Absage noch im Tränenschock, die Premiere (ein wenig vorfristig) plus einen Geburtstag im Hintergrund feiert – und reden über die Virulenz des Stückthemas, denn es geht um Flucht und Vertreibung – und um den Umgang damit in einem zunehmend totalitären Staat. Komischerweise in der Realität nun in ganz anderem Kontext: Der Seuchenschutz killt die Teilhabe am öffentlichen Leben. 

Mangels Reiseerlaubnis und Unsicherheiten nicht dabei: Autor Martin Schäuble, dafür aber Regisseurin Patricia Hachtel und Dramaturg Urs Ochsner sowie Anett Liebsch vom Internationalen Bund sowie Dr. Peter Knüvener und Lisa Karich vom Stadtmuseum Zittau. Dazu frisch eingereist: der inzwischen bundesweit bekannte georgische Regisseur Data Tavadze, der die nächste Premiere machen sollte: Goethes „Iphigenie“ – ebenso wie alle Theaterzukunft ins Ungewisse verschoben.

Denn die eigentlich hernach zu erzählende Geschichte vom äthiopischen Flüchtlingsmädchen Fana, welches in Deutschland auf ein Medizinstudium hofft und auf den deutschen Soldaten Anton, der voll und ganz hinter dem harten Programm der Regierungspartei steht, ist eingebettet in das ambitionierte Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt „entKOMMEN. Das Dreiländereck zwischen Vertreibung, Flucht und Ankunft“ im benachbarten Museum, ehemals Franziskanerkloster – das einstündige Gespräch bleibt im Nachgang erst einmal nur eine Episode, vom Wind der Veränderung in der Relevanz arg überweht und harrt nun auf Speicherchip auf baldige Wiederauferstehungen von Stück wie Ausstellung. Beides sei geplant, ward versichert – spannend wird nun auch das geänderte Verhältnis zur Gegenwart, denn die derzeitige Lage kann rasch neue Fluchtwellen nötig machen. Aber nur, sollte unsere gemeine Komaerweckung irgendwann glücken.

Das Grenzgift der Vergangenheit

Doch was wäre dieser Tag im Dreiländereck, an dem die Tschechen am Vortag und die Polen im Anschluss um Mitternacht die Grenze zu schließen androhten, ohne noch mal einen Blick aufs noch am ersten Mai so gefeierte EU-Dreieck zu werfen? Schwupp, rasch ins offene Polen, wo die Tankstellen und Grenzshops ihren letzten guten Tag (und alle WC-Papiersorten) für lange Zeit haben – und dann vor zum Fluss ans Eck. Keine Kontrollen auch auf dem Weg übern Bach ins Tschechische, von dort ein letztes kitschiges Sonnenuntergangsfoto mit Blick auf die Neiße und die gemeinsamen vier Flaggen im roten Gegenlicht. Eine Woche später sind dort, am Gekreuzigten, vier polnische Grenzschützer stationiert, während ein Zittauer Stadtangestellter ganz allein die eingerissene deutsche Flagge austauscht. Es scheint sich ein Trauma schicksalhaft fortzupflanzen, wohl nirgends bildhafter …

Will man das Leid der über eine Million Menschen im Gazastreifen illustieren, taugt die Fahrt an der Neißegrenze zwischen den beiden Theaterhäusern auf 35 Kilometern Länge gut als Beispiel der Fläche: je fünf Kilometer links wie rechts an Breite. An jenem Samstagsabend der vermeintlich letzten Premiere brummt der riesige, wie eine Stadt leuchtende Tagebau fürs Kohlekraftwerk Turow (vermutlich bis 2044) träge vor sich hin, die Grenzschließung ab Mitternacht ist nur vage an zwei von vier Brücken zwischen Dreieck und Autobahn vorbereitet. Allein oben, auf der Autobahn gen Breslau herrschen bis zu sieben Stunden Stau mit Laster an Laster: Für jene die nicht den Verlust Polens wagen oder zwei Wochen in Quarantäne wollen. Ein großer Teil deutscher Handelslogistik verschwindet nun erstmal hinter der Grenze, Angebot und Nachfrage werden es uns wohl alsbaldig anpreisen.

Am Sonntag sind dann auch alle Brücken gen Polen gesperrt, illuminiert mit Blaulicht am Neißeostufer, erstmal für mindestens zehn Tage proklamiert, aber nunmehr ohne Endlandsicht. Selbst die Zentendorfer Kulturinsel-Fußgängerbrücke, für afrikanisch-verpestete Wildschweine kurz zuvor noch das ultimative  Nadelöhr im blauduftenden Schutzzaun gen Turisede, ist ausgehängt und schräg im Fluß festgemacht. Auf der Altstadtfußgängerbrücke zu Görlitz, das zweite maßgebliche (und ebenso verspätete) 2004er EU-Symbol in Sachsen, ist drüben auf Höhe der Dreiradenmühle quer ein dreiteiliger Bauzaun hingeklotzt, mit Kette und Schloss gesichert – wie ein mittelprächtiges Fahrrad. Der Neißgang über den einstigen Friedensgrenzfluss samt Fotomotiv bleibt nur den Westgörlitzern.

Am Zaun trauert, eigentlich perfekt inszeniert, ein Pärchen und knutscht sich trotzig-traurig durch die Gitterstäbe. Viele kommen ungläubig, gaffen und knispsen. Polen und Tschechien sind für Ostsachsen nun vorerst verloren, trotz geringer Fallzahlen schon weit eher in den öffentlichen Leerlauf verfallen. Vielleicht ein Fiasko für drei Dekaden trinationale Kulturverständigung über schwierige Währungs- und Sprachgrenzen hinaus. Viel wird davon abhängen, wann Kultur wieder zulässig wird, um dann vielleicht doch noch ins anders dystopische “Endland” abzutauchen.

Das Theater schickte seine Leute derweil in Kurzarbeit – mindestens bis Ende April. Derzeit stehen mutig bis trotzig noch drei Premieren der kulturkomakastrierten Spielzeit ab Juni auf der Netzpräsenz – je einmal Tanz, Musiktheater und Schauspiel: “Egoversum” am 6. Juno im Theater Görlitz, “Evita” am 27. Juno im Görlitzer Stadthallengarten und “Die rechte und die linke Hand des Teufels“ am 11. Juli auf der Waldbühne Jonsdorf.

Klar ist: Ohne die maßgeblichen Einnahmen aus den beiden Sommertheaterproduktionen dürfte der pure Überlebenskampf – schon weit eher als nach dem jüngsten sächsischen Kulturpakt gedacht – wieder ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Der neue GHT-Generalintendant, der eigentlich noch vorm Sommer berufen werden sollte, um im nächsten Sommer von Klaus Arauner zu übernehmen, hat wahrlich kein leichtes Hauptmannhauserbe.

Andreas Herrmann

Netzinfos: www.g-h-t.de/de/Premierenuebersicht/

 https://zittau.de/de/tourismus-kultur-freizeit/sehenswertes/st%C3%A4dtische-museen/sonderausstellungen

 

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