Neulich auf einem Bahnsteig. Der Wind pfiff, die Dampflok auf dem gegenüberliegenden Gleis auch, nur anders. Ich überlegte: Soll ich die Lok fotografieren? Die Finger wurden kalt. Ach, warum nicht, wo sieht man heutzutage noch Dampfloks unter Dampf? Ich positionierte mich etwas weiter weg, so eine Lok hat eine gewisse Länge, die muss erstmal ins Kleinbildformat passen. Da schiebt sich von links ein Vater mit seinem Kind ins Bild. Er, ganz Papa, begibt sich auf die Höhe des Kindes und erklärt ihm die Funktionsweise einer Dampfmaschine, vermute ich. Während er in die Hocke geht, offenbart sich das tiefste Bauarbeiter-Dekolleté, das ich je gesehen habe. Meine Kamera löst von allein aus, mehrfach. Gerade als ich ihm zurufen wollte: Man kann deine Darmzotten sehen, erhebt er sich, zieht die Hose hoch und hockt sich wieder hin – mit dem gleichen Ergebnis. Mein Bedarf an Darmzotten war für den Moment gedeckt. Inzwischen blinkte mein Handy, es wollte direkt veröffentlichen. Es gibt da so Apps, die dafür geradezu gemacht scheinen. Die machen das heutzutage auch alles allein, quasi automatisiert steht schwupps Zeug im Internet, das, nachdem es ordentlich geteilt wurde, keiner reingestellt haben will. Was früher nur die Mitglieder des Bierkreises in der Eckkneipe zu hören und sehen bekamen, hat neuerdings Potenzial für die Tagesthemen. Zum Glück hatte ich meine analoge Kamera dabei. Ehe da das Bild fertig ist, sind schon wieder Hunderte neuer Posts die Spree hinuntergeflossen. Worum ging’s nochmal?
Editorial März 2020
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