Ein Streifzug durchs neueste polnische Kino

0

Die Liste der polnischen Regie-Genies ist lang. Von Andrzej Munk über meinen derzeitigen Liebling Wojciech Smarzowski bis zu Krzysztof Zanussi ließe sie sich so ausdehnen, dass sie einen halben Artikel einnehmen würde. Grund genug, beim diesjährigen Cottbuser Filmfestival einige der aktuellen Beiträge des Nachbarlandes unter die Lupe zu nehmen.

Adventures of a Mathematician

Die polnische Cinemathek im Warschauer Palast der Wissenschaft und Kultur

Die polnisch-deutsche Koproduktion unter der Regie von Thor Klein aus Kaiserslautern stützt sich auf die Autobiografie des polnischen Wissenschaftlers Stanisław Ulam. Aus dem polnischen Lwow stammend, kam er 1940 nach verschiedenen US-Dozenturen nach Los Alamos, um sich an der geheimen Forschung zu Nuklearwaffen zu beteiligen. Das Ziel der Experten-Gruppe ist, wie bekannt, die Entwicklung der Bombe, bevor Hitler über eine verfügt.

Schließlich wird das faschistische Deutschland besiegt, die Arbeit jedoch geht unbeirrt weiter. Nach dem zweiten Atombomben-Abwurf auf Nagasaki spaltet sich die Gruppe. Der Mord an 130.000 Zivilisten lastet schwer auf dem Gewissen einiger. Auch Ulam gerät in ärgste Zweifel über die Rechtmäßigkeit seiner Forschung …

Unaufgeregt und an keiner Stelle überdramatisierend erzählt Kleins Film in repräsentativen Bruchstücken das Schicksal eines der bedeutendsten Wissenschaftler des letzten Jahrhunderts.  Die Darsteller überzeugen bis in die Nebenrollen, das Dekor ist brillant, die Farbkorrektur verleiht den Geschehen einen stimmig nostalgischen Gelbstich.

Vortrefflich ist auch der Einsatz der Musik von Antoni Lazarkiewcz: Es gibt da einige ergreifende Szenen, die man in Hollywood gewiss mit vorinterpretierenden Streichern zugekleistert hätte. Hier ist die Musik sparsam und dezent, meist erzählen nur ein paar fragile Klavier-Akkorde oder eine stille Klarinette, was ganz wunderbar funktioniert.

Fazit: Ein gelungenes Biopic, das im nächsten Jahr garantiert den Weg ins allgemeine Kinoprogramm findet.

Symphony oft he Ursus Factory

Die Kieslowski-Straße in Łódź

von Yasmina Wójcik zeigt in der Sektion „Von Frust und Freiheit“, wie man die Grenzen des Dokumentar-Films ausweiten kann. Gegenstand ist die Traktor-Fabrik „Ursus“, die im Sozialismus eine der größten Produktionsstätten Polens war und heute ein Dasein als Ruine fristet. Den Umbruch der neunziger Jahre kommentiert ein ehemaliger Arbeiter: „So sind alle polnischen Fabriken aus dem sicheren Hafen weggesegelt. – Demokratie ist für die da, die Leute an der Macht. Nicht für uns, die Arbeiterklasse.“ (Ich habe den Film angehalten, um das abzuschreiben.)

Allmählich aber verlässt der Film das Dokumentarische: Die ehemaligen Angestellten der Fabrik stellen sich inmitten der Trümmer an ihre alten, nur noch rudimentär vorhandenen Arbeitsplätze und stellen pantomimisch ihre Tätigkeiten nach, dabei die Maschinengeräusche imitierend. Man entdeckt Choreografien – und Musikalität. Da gibt es eine ganz wunderbare Szene, in der drei Frauen an einem (natürlich unsichtbaren) Zahnrad-Schaber stehen, und ihre Nachahmung der Maschinenklänge ist ein wirklicher Gesang, mit leichten Reibungen, etwa wie von Lutosławski komponiert.

Und spätestens an dieser Stelle schwant dem Betrachter, dass hier etwas inszeniert worden ist: Eine Symphonie, in der ein wenig Davis Lynchs „Industrial Symphony“ und bedingt auch „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“ anklingt. Wie es zu dieser originellen Inszenierung kam, erfährt der Zuschauer am Ende des Films.

„People and Gods“

Das Warschauer Kino „Relax“ in der Dämmerung

von Hauptjury-Mitglied Bodo Kox erzählt die Geschichte des Warschauer Widerstands gegen die Besatzung durch die deutschen Faschisten mit den Mitteln einer Fernseh-Serie. Ziemlich forsch und nicht zimperlich geht es hier zur Sache, was den Unterhaltungswert der Reihe durchaus steigert.

Im Zentrum stehen zwei Angehörige der Polnischen Heimatarmee, Onyks und Dager, die Besatzer und Kollaborateure liquidieren. Meine Prognose ist nach der ersten Folge, dass sich der Konflikt zwischen den beiden verschärfen wird – der eine ermordet nur Menschen, die von der Polnischen Untergrund-Regierung (in einem Hinterzimmer) zum Tode verurteilt worden sind, während der andere ganz nach eigenem Gutdünken kurzen Prozess macht und vollstreckt. (Das macht zugegeben richtig Spaß, wenn so ein Herrenmensch, der eben noch eine Jüdin angepöbelt hat, im Hauseingang einfach mal schnell abgemurkst wird.) Ich werde mir die restlichen Folgen auf jeden Fall ansehen.

„Rotten Ears“

Zentrale des Fernseh-Senders TVP 3 in Łódź

Im Wettbewerbsbeitrag von Piotr Dylewski geht es um ein Therapie-Wochenende, das ein junges Paar bei einem unkonventionell arbeitenden Psycho-Therapeuten gebucht hat. Nach vier Jahren haben sie entdeckt, dass in ihrer Beziehung nicht mehr alles eitel Sonnenschein ist, und sich beim jeweils anderen bei näherer Betrachtung jede Menge Fehlverhalten finden lässt.

Nun habe ich weder die Bedeutung eines André Bazin noch die Reichweite eines Claus Löser und kann daher anmerken, dass mich der Streifen nicht sonderlich begeistert hat. Es gibt im letzten Drittel einige originelle Konstellations-Wechsel (mit einem vom Therapeuten ins Spiel gebrachten anderen Paar), und es ließe sich soziologisch auch einiges in die Dialoge hineinlegen; für mich war der Film insgesamt dann aber doch eine Spur zu klein für den Wettbewerb. In

„Eastern“

sind die Konstellationen zunächst etwas übersichtlicher. Zwei Familien stehen sich in einer Blutfehde gegenüber. Das Absurde an der Situation ist, dass der Ort der Handlung das heutige Polen ist, ein realistisch abgefilmtes Milieu in einer Allerwelts-Vorstadt, und dass zu bevorstehenden Racheakten auch ein ganz normaler Anwalt konsultiert wird, der beim Blutgeld auch die Mehrwert-Steuer ausweist.

Der „Polskie Horizonty-Beitrag von Piotr Adamski gibt sich zunächst als Genre-Film, mit finsteren Gesichtern (auch der Frauen) und jeder Menge Waffen. Doch wächst er nach und nach aus den erwarteten Konventionen heraus – und wird dadurch immer besser. Er zeigt einen Weg aus einer vorherbestimmten Dauer-Katastrophe, bietet Ausdeutungen als Parabel an, bis … Ich will nur verraten, dass irgendwas ja immer ist, und wünsche dem geneigten Leser noch ein paar aufreizende Festival-Tage. Bis zum nächsten Artikel!

Henning Rabe

  1. Dez. 2020

Teilen.

Hinterlasse eine Antwort