Erinnerungen an die Marie23

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Auf eine Zigarette in der Cottbuser Galerie und Kultkneipe

Die Räumlichkeiten einer Kneipe am frühen Nachmittag zu betreten hat etwas Unwirkliches. Die meisten Cottbuser werden sicher einmal die Schwungtür zur Marie23 aufgestoßen haben und schon war man drin in einer verheißungsvollen Nacht. Jetzt, zum verabredeten Treff um 14 Uhr sitzen keine rauchenden Menschen an der Bar und erzählen sich ihre Kuriositäten. Ich bin allein. Es ist ziemlich dunkel und sehr, sehr still.

Biergarten, 2006 Fotograf: Archin MA/RIE/MIX 23

Draußen im Garten treffe ich Kneipier Ulli Barthel und den langjährigen Kustos des Kunstmuseums Dieselkraftwerk, Jörg Sperling. Die Sonne scheint sporadisch, aber zum draußen sitzen reicht‘s. Ulli Barthel hält mir eine Schachtel Kippen hin, ich greife zu (bereut, weil nüchtern) und los geht unser Gespräch über das Haus in der Marienstraße 23.

Angefangen hat alles Ende der Achtziger. Die DDR dümpelt vor sich hin und wird mit jedem Jahr grauer. Die Künstlerszene von Cottbus allerdings ist lebendig und hat Ideen. Hans Scheuerecker ist wohl der bekannteste Name, dennoch einer von vielen. Eine Gruppe junger Künstler und Kunstinfizierte sucht nach Räumlichkeiten und wird fündig. Mit dabei: Jörg Sperling. Das Objekt in der Marienstraße 23 ist eigentlich ein Abrisshaus, aber es kostet nichts. Zunächst.

Alles, nur nicht öde, 1991 Fotograf: Archin MA/RIE/MIX 23

Von Anfang an war die Idee federführend, einen Raum für Kunst, als Werkstatt zu schaffen. Mehr noch. Es sollte ein Ort für Austausch, Treff, Veranstaltung, für Veränderung, für Spinnerei sein. An den Teil mit der Kneipe war noch gar nicht zu denken. Die Bildhauer Thomas Herrmann und Manfred Reuter benutzen die oberen Räumlichkeiten als Atelier und die unteren für Ausstellungen. Das Publikum ist querbeet, Studenten, Künstlerkollegen, Punks, Lebensartisten. Man kann solche Dinge nie wirklich planen, entweder der Funke springt über oder nicht. Das Konzept geht auf. „Learning by doing“ würde man heute sagen. Einfach machen.

Marie Vorplatz, 1990 Fotograf: Archin MA/RIE/MIX 23

Zu verschenken hat die Stadt trotzdem nichts. Das Grundstück muss gekauft werden. 1988/89 erwirbt Mitgründerin Elke Dieminger den Grund und Boden und konsolidiert somit das Projekt. Die Idee mit der Kneipe bekommt Konturen. Es ist ja so, wenn junge Leute, noch dazu Künstler, zusammensitzen, wird auch gefeiert. Ulli Barthel sagt: „Jeder hat mal ‘nen Kasten Bier mitgebracht und dann hat sich das entwickelt.“ Irgendwann wurde ein Brett in einen Türbogen als Tresen angebracht, um eine klare Grenze von Gästebereich und Ausschank zu haben.

Momentaufnahme 1991 Fotograf: Archin MA/RIE/MIX 23

Die Wende ist auch für die Galeristen mit großen Fragezeichen verbunden, aber man macht weiter. Sperling und Barthel sprechen von einer spannenden Zeit. Es wird viel rumprobiert. Die Marie23 hat damals täglich geöffnet. Bereits von früh an. Suppen und Imbissvariationen zur Bewirtung werden gereicht. Abends gibt es im Hof Lagerfeuer. Nicht nur Ausstellungen werden aufgefahren, wie Hans Scheuereckers und Matthias Körners legendäre „Bemalte Faltrollos“, sondern auch Konzerte, Lesungen oder Kinoabende. Man spielt regelmäßig Schach und veranstaltet Turniere.

Ausstellung von HMR Praetorius, 1990 Fotograf: Archin MA/RIE/MIX 23

Eine politische Komponente kommt hinzu. Inzwischen gibt es den Begriff der „Baseballschlägerjahre“, der die massive Gewalt von Neonazis in den 1990er-Jahren (vor allem) in Ostdeutschland meint. Stadtmitte gilt als links. Die Marie23 (oder das Gladhouse) werden zum Feindobjekt der Rechten aus den Plattenbau-Stadtteilen. Ulli Barthel sagt, es hätte nie eine explizit linke Verlautbarung gegeben, aber so war eben der Ruf. Eigentlich kannte man sich. Es gab sogar gemeinsame Fußballspiele „Rechts gegen Links“. Nur, es wurden immer mehr und irgendwann kannte man die nicht mehr. Ein Klassiker ist die Hakenkreuzschmiererei mit dem Spruch „Rote Scheine Raus!“. Die braunen Wandmaler hatten das „w“ vergessen und in der Marie23 amüsierten sich die Gäste, welche roten Papiere genau gemeint wären? Bei aller Gelassenheit stehen Schutzmaßnahmen an. 1991 wird das Haus mit massiven Fensterläden versehen.

Rote Scheine Fotograf: Charlie Köckritz

Galerie und Kneipe entwickeln sich und führen ihre Eigenleben. In den drei Jahrzehnten des Bestehens gibt es viele Blüten zu nennen: Das Etablieren als fester Bestandteil der Cottbuser Kunstszene, die vielen Ausstellungen bekannter und neuer Künstler, die Zusammenarbeit mit den Architekturstudenten der BTU für die arch.stars-Werkschau, die Etablierung als Kultkneipe im Cottbuser Nachtleben oder die Mitorganisation der Reggae-Open-Airs im Strombad. Ska-Legende Laurel Aitken gab sein vorletztes Konzert an der Spree, bevor er das Zeitliche segnete.

Um die Galerie Haus 23 wurde es in den letzten Jahren ruhiger. 2019 wäre es beinah zum Abgesang gekommen, aber nur fast, denn zu viele Freunde, Anhänger, Begleiter drängten zum Weitermachen. In diesem Jahr heißt nun Corona der Endgegner. Der Galerieneustart unter dem Namen MA/RIE/MIX 23 im März musste verschoben werden. Ab 30. Oktober gibt es fette Kunst fürs Auge: Der großartige Maler Dieter Zimmermann zeigt anlässlich des Jubiläums vom FilmFestival Cottbus seine „Muzelgrüße“.    

Ulli Barthel bei der Arbeit, 2020 Fotograf: Daniel Ratthei

Die Marie23 ist Mitglied der Club Kommission Cottbus und Ulli Barthel deren einstimmig gewählter Schatzmeister. Die Club Kommission war ungeheuer wichtig für Kulturschaffende der Stadt. Zum einen, um sich untereinander näher zu kommen, zum anderen kann man als Einheit der Stadtverwaltung gegenübertreten und Anliegen formulieren.                        

Daniel Ratthei

Mein Tipp: Zu Corona-Blütezeiten im April konnte man virtuelle Mexikaner-Shots von der MARIE erwerben, um die Kommissionsmitglieder zu unterstützen. Das passt, denn der Volksmund sagt, dort gibt es den besten Mexikaner der Stadt. Ay Caramba! Man möge es probieren. Kneipe Di – Sa ab 20 Uhr. Die Galerie hat Do – Sa von 19 – 22 Uhr geöffnet. Dieter Zimmermanns Ausstellung läuft bis zum 27.02.2021.

 

         

 

 

 

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