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Vom Verschwinden und Erinnern

S. Fischer, 618 Seiten, 24 EUR

Alexander Osang hat sich mit Romanen wie „Die Nachrichten”, „Königstorkinder” und „Comeback” als ein unterhaltsamer, witziger und seriöser Erzähler ausgewiesen. Sein jüngster Roman „Die Leben der Elena Silber” (S. Fischer, 618 Seiten, 24 EUR) ist nun sein Meisterwerk. Die Geschichte einer deutsch-russischen Familie spannt ihren Bogen über vier Generationen vom Jahr 1905, in dem der Revolutionär Viktor Krasnow von zaristischen Horde regelrecht massakriert wird, bis in das Jahr 2017, wo der deutsche Urenkel des Revolutionärs Konstantin Stein, ein Abbild des Autors die Familiengeschichte, die von Zarismus, Kommunismus, Leninismus und Stalinismus, Faschismus und Kapitalismus geprägt wurde, zu erkunden beginnt. Das ist spannend wie bei Thomas Mann und Dostojewski, ein bisschen Buddenbrooks, ein bisschen Karamasows. Folgendes gibt dem Erzählten eine noch wichtigere Ebene: Neben banalen, brutalen und brisanten Ereignissen steht immer die Frage im Raum: Wie erinnert man sich, und ist Erinnerung immer mit Wahrheit identisch? Und die Frage: Sind Menschenleben überhaupt zu rekonstruieren, und wo sind die Verschwundenen?

Aufbau, 246 Seiten, 20 EUR

Seit Maxi Wanders 1977 erschienenen Frauen-Tonband-Protokollen „Guten Morgen, Du Schöne” weiß man um den Zauber erzählter Biografien. Sie gaben den Frauen eine Stimme. Diesem Muster folgt jetzt die Leipziger Autorin Greta Taubert mit ihrem Buch „Guten Morgen, Du Schöner” (Aufbau, 246 Seiten, 20 EUR). Bei ihr sind es Männer der Wendezeit, „Ossis”, die das Wort erhalten. Es ist das Plädoyer für eine Menschengruppe, die wie kaum eine andere von gängigen Klischees erschlagen werden. Jammerlappen, Schwächlinge, Brandstifter, Terroristen, wie einige wenige von ihnen, sollen sie alle sein. In 16 Interviews präsentiert Greta Taubert Angepasste, Rebellische, Angekommene, Widerständige, welche, die den Mund aufmachen, andere, die nur diese einzige Gelegenheit dazu nutzen. Es wird bei dieser Differenzierung deutlich, dass es den Ossi nicht gibt. Manche Biografie könnte auch zu einem Westmann gehören.

Ullstein TB, 363 Seiten, 9,99 EUR

Ist Ihnen das auch schon widerfahren: Einem Buch eilt ein bestimmter Ruf voraus, der Sie wirbt es in die Hand zu nehmen. Und Sie lesen und lesen und lesen, und es will sich nicht einstellen, was Ihnen versprochen wurde. So ging es mir jetzt mit dem Roman „Die Augen der Finsternis” von Dean Koontz (Ullstein TB, 363 Seiten, 9,99 EUR). 1981 in den USA und 1988 erstmals in Deutschland erschienen, wird die Neuveröffentlichung 2020 mit der Frage beworben: „Hat dieser Thriller den Ausbruch des Coronavirus vorhergesagt?” Über 300 Seiten liest man einen normalen, nicht besonders originellen Thriller, der immer mehr zum Märchen- und Geisterbuch wird. Man ist geneigt, einen Satz auf Seite 292 als Motto anzunehmen: „Für mich klingt es nach dem allergrößten Humbug.” Dass noch weiter hinten das Wort Wuhan 400 fällt und ein paar Szenen in einem abgeschiedenen Bio-Labor spielen, ist wohl wirklich nicht mehr als Zufall, der die Neuausgabe nicht rechtfertigt: Sensationsmache!

Aufbau, 253 Seiten, 20 EUR

Ein origineller vielschichtiger Roman mit ernstem Hintergrund kommt aus Japan zu uns. „Das Seidenraupenzimmer” von Sayaka Murata (Aufbau, 253 Seiten, 20 EUR) erzählt von den Folgen, die der grässliche Missbrauch der Schülerin Yuki durch ihren Lehrer nach sich zieht. Yuki isoliert sich von der Gesellschaft, die sie als eine kalte Leistungsgesellschaft empfindet und erlebt. Mit ihrem Cousin Yu träumt sie sich auf den Planeten Pohapipinpopopia. Der Ekel vor der ungewollten Verführung treibt sie in eine arrangierte Ehe ohne Sex… Muratas Buch ist eine Mahnung vor Frauenfeindlichkeit und gegen eine patriarchalische Gesellschaft, die Liebe nur in den Mauern einer  „menschenproduzierenden Fabrik” zulässt.

Klaus Wilke

 

 

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