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Die Erde einmal von außen sehen

(Aufbau, 280 Seiten, 22 EUR)

Landolf Scherzer ist 80 geworden. Vor zwei, drei Wochen. „Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben” (Aufbau, 280 Seiten, 22 EUR) heißt ein Interviewbuch von Hans-Dieter Schütt aus diesem Anlass mit ihm. Die Biografie des  wunderbaren Reporters, der seit ein paar Jahrzehnten in Suhl seine Heimat gefunden hat, weist auch einige Anmerkungen zur Lausitz auf. Hier – in Forst – hat Scherzer einige Jahre mit seinen Eltern gelebt. Er hat in der Jugendredaktion der Lausitzer Rundschau volontiert. Nach seinem Studium, von dem er aus politischen Gründen entfernt worden war, und einer kurzen journalistischen Zeit beim „Freien Wort” in Suhl wurde er freier Schriftsteller. Eines seiner ersten Bücher war  „Spreewaldfahrten” (mit Fotos der Cottbuser Bildreporterlegende Erich Schutt). Es trug ihm geharnischte Kritik Cottbuser Parteioffizieller ein, die das Buch – zum Glück vergeblich – verboten und vernichtet verlangten. Immerhin machte er 1975 (!) auf Umweltverschmutzung, Schäden für die Landwirtschaft durch die Industrialisierung, Missachtung des Bürgerwohls aufmerksam. In zwangloser, oft pointierter Unterhaltung wirft Schütt einen Blick auf ein Lebenswerk, das zu erneuter Lektüre animiert.

Luchterhand, 416 Seiten, 22 EUR

 Juli Zehs Romane sind seit jeher eine Art Modellversuche darüber, was denn geschähe, wenn . . . Immer geht es – zum Beispiel in „Corpus delicti”, „Nullzeit” oder „Leere Herzen” –  dabei um das Zusammenleben von Menschen, um Gefährdungen der Demokratie. Nun ließ sie dem trefflichen Gesellschaftsroman „Unterleuten” (2016) den titelverwandten Roman „Über Menschen”  (Luchterhand, 416 Seiten, 22 EUR) folgen. Wie der vorangegangene spielt er in dem märkischen Dorf Bracken. Dorthin hat es 2020 die Berliner Werbetexterin Dora verschlagen, die dem hauptstädtischen Mief und Stress, ewiger Besserwisserei und Prahlsucht, Corona-Lockdown, Maskenpfkicht sowie dem klimawandelgeilen Robert, ihrem Lebensabschnittpartner, entfliehen will. Dort, in Bracken, gerät sie in einen Mikrokosmos gegenwärtiger Befindlichkeiten. Wie sie sich bzw. Juli Zeh diesen aneignet, beeindruckt den Leser. Es gibt in diesem Roman kaum ein Tabu. Alles, was in Coronazeiten gedacht, gesagt, getan wird, steht in diesem Buch. Mit der Volkssprache von 2020. Sie hat den Menschen auf’s Maul geschaut und sie genau beobachtet. Obwohl klar vom Autorinnenstandpunkt, erfolgt keine Denunziation. „Die Erde einmal von außen sehen” will Dora, und Juli Zeh macht mit!

Aufbau, 380 Seiten, 22 EUR

Auch der Roman „Kaßbergen” (Aufbau, 380 Seiten, 22 EUR) von Patricia Holland Moritz weiß seine Leserinnen und Lesern aufs Beste zu unterhalten. Der literarische Ort Kaßbergen leitet sich von dem Chemnitzer Stadtteil Kaßberg ab, einem renommierten Wohnviertel aus der Gründerzeit. Die Autorin versteht ihr Buch als ein Gegenbild zu dem zweifelhaften Ruf, in den die Stadt durch rechtsextreme Ausschreitungen gekommen ist. Sie setzt den verbissenen Grimmassen von herbeigekarrten Demonstranten das Lebensbild eines jungen heranwachsenden Mädchens in der 70er und 80er Jahren entgegen, das seinen Platz im Leben finden will und dazu ihre teilweise skurilen Verwandten und Bekannten ausfragt. Die frischen, unbefangenen, oft lustigen Fragen Ulrikes treffen allzuoft auf Antwortverweigerung. Zudem gerät sie mit ihrem Freund Gonzo in der Künstlerszene in eine undurchsichttige Situation, die den Prägestempel der Stasi trägt.

Ullstein, 410 Seiten, 20 EUR

Anna Brüggemann ist TV- und Filmschauspielerin sowie Drehbuchautorin. Das alles machte ihr Lust, sich an einem Roman zu versuchen. Er heißt „Trennungsroman” (Ullstein, 410 Seiten, 20 EUR). Eva und Thomas sind seit acht Jahren Lebenspartner. Die letzten zwei Jahre hat Eva in Paris gearbeitet – eine Fernbeziehung. Nun kehrt sie zurück. Beide hoffen, damit beginnt die Liebe neu. Bald müssen sie feststellen, dass die Chemie nicht mehr stimmt. Beide lieben einander, aber das Wichtigste ist verloren gegangen. . .Mit einem interessanten Countdown als Kapitelüberschriften zeichnet Anne Brüggemann nach, wie die Partnerschaft zusammenbricht. Damit nicht genug: Sie fügt einen Count up an, in dem zu erleben ist, was nach dem Bruch geschieht und wie sich die beiden Ex-Liebenden voneinander entfernen. Das Hoch- und Runterzählen verleiht dem Roman seine brickelnde Note.

Klaus Wilke

 

 

 

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