Mythen in Tüten

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Geheimnisvolle Rockgeschichten: Fans erzählen sich die tollsten Sachen, auch über Cottbuser Musiker  

Vor 30 Jahren ging offiziell eine Ära zu Ende (die des Staates DDR) und eine neue begann, die der Bundesrepublik. Für viele damals junge Ostler war es die spannendste Zeit, für manche ist es bis heute eine mythische Zeit, weil alles möglich war – und auch weil sie musikalische Mythen gebar. An einigen hatten sogar Cottbuser Jungs ordentlich mitgestrickt.

 Zum Beispiel eine Band namens Pancake Barricades. Die tourte im Sommer 1988 als Vorgruppe von Die Anderen durch den Urlaubskorridor entlang der DDR-Ostseeküste. Die Musiker trugen Strohhüte und in ihrem „Mexiko“ betitelten Programm spielten sie unter anderem den Toten Hosen-Song „Und die Jahre ziehen ins Land“. Da die Pancake Barricades nicht extra als Vorgruppe angekündigt worden war, hatte sich nach einem Konzert in Rostock das Gerücht entwickelt, dass es sich um heimliche Gigs der Toten Hosen handele. Unter ihren Fans in der DDR hatte sich natürlich herumgesprochen, dass die Düsseldorfer Punkband gern mal Geheimgigs unter lustigen Fake-Namen spielte. Und einige wussten vielleicht sogar, dass die Hosen wirklich schon heimlich in der DDR – auf Ostberliner Kirchengelände – aufgetreten waren. Warum also auch nicht an der Ostsee.

 „In Wismar standen plötzlich Massen vor dem Klub, die alle ins Konzert wollten und skandierten: ‚Hosen!, Hosen!‘. Wir haben sie während des Konzerts auch im Glauben gelassen, dass wir es sind, und die Leute gingen voll ab“, erinnerte sich Jahre später der Sänger der falschen Toten Hosen. Sein Name: Kai-Uwe Kohlschmidt, im wahren Leben Frontmann der Cottbuser Band Sandow. Zum Konzert sei seine Band damals mit einem schwarzen VW Käfer angereist, der sogar ein Cottbuser Nummernschild gehabt habe. Das sei den Leuten jedoch ebenso wenig aufgefallen wie dem Publikum im Konzert, dass die Setlist gar nicht groß aus Hosen-Songs bestand. „Aber die Ostler kannten ja auch gar nicht das komplette Live-Repertoire der Hosen. Die haben einfach so getobt, dass wir unsere sieben Lieder noch mal gespielt haben.“

 Ein anderer Mythos um den illegalen Auftritt eines berühmten westdeutschen Rockmusikers in der DDR rangt sich um Udo Lindenberg. Auch bei dem spielt ein Musiker eine Rolle, dessen Name in Cottbus und ganz Ostdeutschland noch heute bekannt ist: Achim Mentzel, der 2016 in Cottbus verstorbene Gute-Laune-Musikant. Bevor er der Schlager- und Stimmungsmusik verfiel, war Mentzel ein exzessiver Rock ’n’ Roller gewesen. Als wilder Frontmann des Diana Show Quartetts erlangte der gebürtige Berliner ab 1963 überregionale Bekanntheit. Nachdem die Band verboten wurde, sang er in Tanzorchestern, blieb nach einem Gastspiel im Westen, kehrte nach einigen Monaten reumütig zu seiner Familie in die DDR zurück. Nachdem man ihn zur Bewährung verknackt hatte, trat er zwar etwas kürzer, aber die Rock ’n‘ Roll-Geschichten gingen weiter. Bei einem Ostberliner Konzert mit Fritzens Dampferband in den späten Siebzigern  trommelte an seiner Seite plötzlich Udo Lindenberg.

 Achim war damals Gitarrist der Fritzens Dampferband, die an besagtem Abend im Ostberliner Tanzrestaurant „Lindencorso“ spielte. „Udo war zu Ohren gekommen, dass wir stets seine Lieder nachspielten“, erinnerte sich Mentzel später. „Da ist der eines Tages einfach mal von Westberlin rüber gekommen und hat sich bei uns für einen Song ans Schlagzeug gesetzt und mitgespielt. Danach wollte natürlich jeder mit ihm einen trinken und wir mussten ihn gegen Mitternacht zum Grenzbahnhof Friedrichstraße zurücktragen.“ Wer es nicht glaubt – von diesem exklusiven, sensationellen Auftritt existiert – im Gegensatz zu dem der falschen Hosen in Wismar – sogar ein Foto. Achim, voll der Poser an der Gitarre, und Udo ohne Kopfbedeckung. Es war die Zeit vor dessem persönlichen Hut-Mythos.

 Aus Lindenbergs DDR-Tournee wurde in den Achtzigerjahren – trotz des Versprechens der DDR-Führung – übrigens nichts. In Cottbus gastierte er dann erstmals 2004 in der Stadthalle anlässlich von 30 Jahre „Panikpower“. An seiner Seite war – neben Peter Maffay und Nina Hagen – auch die Cottbuser Nachwuchsband SPN-X (und außerdem Silbermond). Achim Mentzel stand nicht mit auf der Bühne, aber in Gedanken wird er bei Udo Lindenberg dabei gewesen sein. Schließlich hatte der bei einem Pressetermin in Cottbus auf die Frage, in welche Zeit er selbst am liebsten reisen würde, geantwortet: „Unbedingt in die Siebziger. Eine Zeit, in der es so richtig abging auf der Bühne.“

 Was übrigens auch auf die Konzerte von Sandow 1995 zutrifft, die aus heutiger Sicht ebenfalls eine historische Aura umspannt. In jenem Jahr gab eine Band den Live-Support der Cottbuser, die heute als weltgrößte deutsche Rockband aller Zeiten gilt (okay, Kraftwerk-Fans werden das anders sehen): Rammstein. 

 Die erst kurz zuvor gegründete Band war nach der Veröffentlichung ihres Debütalbum „Herzeleid“ als Vorgruppe von Sandow auf Tour gegangen. In gewisser Hinsicht schloss sich dort wieder ein Kreis, denn zwei Rammstein-Mitglieder waren 1987 mit ihrer Band Feeling B Protagonisten eines legendären DEFA-Films, zusammen unter anderem mit den Musikern von Sandow. Gezeigt wird wie die jungen Musiker zwei Jahre vor dem noch nicht absehbaren Ende der DDR an der Ostsee ein Stück freies Leben suchten. Im Film „Flüstern & Schreien“ sieht man sie am Strand pogen oder in irgendwelchen Kaffs spielen. Der junge Sänger der Cottbuser Band Sandow beklagt die „verstaubte Zufriedenheit“ im Land.

 Was man nicht sieht ist Kai-Uwe Kohlschmidt als vermeintlicher Campino in Wismar. Nach dem Konzert hätte der Toten-Hosen-Mythos übrigens weiter gewirkt, erinnerte er sich noch. „Alle wollten uns kennenlernen und backstage kommen. Wir haben bloß Mädels reingelassen und zwei fragten uns sogar, ob wir helfen könnten, damit sie für eine Westkarriere entdeckt würden. Die beiden haben wir dann vorsingen lassen, ‚99 Luftballons‘ von Nena und so. Leider konnten wir ihnen nicht weiterhelfen.“

 Was Kai-Uwe Kohlschmidt, ein intimer Kenner der unangepassten Szene in Cottbus in den Achtzigerjahren, bei der Gelegenheit noch erzählte. Ein illegales Konzert einer Westband hat es in der Stadt nie gegeben. Dieser Mythos kommt nicht in die große Wundertüte.

Thomas Lietz

 

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