Kurz erscheint die Europa-Union als verseuchte Geschichte. Doch die Stadt Görlitz braucht ihre Polen – und den kleinen Grenzverkehr.
Plötzlich alles dicht. Am 12. März schlossen die Tschechen die Grenzen, in der Nacht zum 15. März, also von Sonnabend zu Sonntag, dann die Polen. Obwohl (oder weil?) sie noch genug Toilettenpapier in ihren riesigen, ziemlich leeren Supermärkten hatten. Die Oder-Neiße-Friedengrenze war plötzlich fast so undurchlässig wie einst zu Solidarność-Zeiten, bis zu 60 Kilometer ward die Schlange der polnischen Sattelschlepper, die den deutschen Konzernen bis dato teure Lagerhaltung oder deutsche Spediteure ersparten, auf den Autobahnen lang, weil der Fiebertest und der Fragebogen pro Fahrer bis zu zwölf Minuten dauerte. Es schien so, als ob alle EU-Bande und Gesprächsfäden gerissen seien, weil fast alle Länder weltweit die anwesenden Bürger fein nach Mutterland und Vatersprache zurücksortierten: das, die oder der Fremde ward als möglicherweise infektiös gebrandmarkt.
Während sich der westdeutsche Mainstream wie immer auf den Westen und Süden der Republik konzentrierte, wo Deutschland die Grenzen schloss oder über die Dänen im Norden schimpfte, die ihren hässlichen Wildschweinpestzaun plötzlich auch für Menschen zur Grenze erklärten. Dabei wurden die echten Durchseuchungszahlen von Niederländern und Belgiern, zu denen die Grenze offen blieb (damals weit höher als die von Deutschen und Franzosen, nur noch von Schweizern getoppt), seltsamerweise ignoriert. Heute mag man sagen, dass Polen und Tschechen – die rund eine Woche früher und auch konsequenter als unsere Bundesländer handelten – wohl richtig lagen.
Vielleicht sogar mit einem reziproken Effekt für uns, was auch an der Infrastruktur (oder der gepflegten Testsitte) liegen kann: das gesamte Grenzland blieb weitestgehend verschont. Zittau (derzeit nur 4 Fälle) und Görlitz (22) als Mittelzentren sind ähnlich unbeleckt wie Cottbus – der gesamte Landkreis Görlitz hatte zum Zeitpunkt dieser Zeilen seit zehn Tagen keinen positiven Test mehr erlebt. Noch besser sieht es derzeit jenseits der Grenze – also in Zgorzelec und der Region Liberec – aus. Der Landkreis Bautzen hat hingegen viel genauer getestet – und mit zwei jüngeren Ausbrüche in einem Riesenpflegeheim in Radeberg (eigentlich ehemaliger Dresdner Kragenkreis) und einem ambulanten Pflegedienst Kamenz zu kämpfen. Ansonsten auch dort: recht geringe Infektionszahlen – allerdings bei erhöhter Sterblichkeit, die vor allem auf den Übergriff auf Altersheime zurückgeht: bislang 22 Opfer im Landkreis Görlitz und 15 in Bautzen stehen in der Oberlausitzer Bilanz.
Grenzzaun als Witz
Während man noch am 14. März – nach der enttäuschten Hoffnung auf die wohl letzte sächsische Premiere der Spielzeit, passend als „Endland“ in Zittau angesetzt (vgl. hermann 05/2020) – rasch zum Sonnenuntergang über die polnische Grenze am Neißeufer entlang gen Dreiländereck kurz ins Böhmische switchen konnte, war schon mitternachts neißwärts alle Brücken dicht. Am nächsten Tag stand ein billiger Bauzaun auf der Görlitzer Altstadtbrücke, allerdings erst an der Dreiradenmühle, also genau über dem polnischen Uferstreifen. Beide Länder verhängten eine gegenseitige Quarantänepflicht bei Einreise – so mussten sich Pendler entscheiden, was in Görlitz, das manchmal sanft wächst, weil Zgorzelec sanft schrumpft, und wo inzwischen offiziell rund fünftausend Polen wohnen, zu absurden Situationen im Arbeits- wie Familienleben führt und durchaus als Schikane empfindbar ist.
Was sich dann plötzlich nach sechs Wochen – am 24. April erstmals – in spontan über soziale Netzwerke organisierte Abendspaziergänge entladen kann. Der erste kam so überraschend, dass die Staatsmacht, auf beiden Seiten nicht als zimperlich bekannt und auf Görlitzer Seite seit 2019 dank Dreifachwahlkampf mit bester Überwachungstechnik gepaart, kapitulierte.
Zwischen achthundert und eintausend Leute kamen rasch in Summe auf beiden Seiten zusammen, anfangs auf beiden Brücken, später zog man neißabwärts, wo es durchaus – in der Mischung aus jungen Frauen, schlauen Hippies und kompakten Männern und einen Moment ohne jede hygiensche Contenance – ein wenig an den Oktober 89 in Dresden erinnerte und das sonst so leicht behäbige Görlitzer Stadtbild konterkarierte. Die EU-beflaggten Görlitzer Gutmenschen blieben dabei Randerscheinung, es wurde arg am trennenden Zaun gerüttelt und Europa- und Nationalhymne gesungen – alles auf Polnisch. Doch die Dynamik täuschte: der Zaun blieb stehen, überraschend rasch wie zivilisiert löste sich der Mob auf – der Job war wichtiger.
Am 1. Mai, beiderseits Feiertag, dem nächsten Termin, waren es auf polnischer Seite noch rund achtzig Leute, auf deutscher rund vierzig Polen – mit lauter Musik und Megaphon. Doch nun war man in Dresden vorgewarnt – die deutsche Bereitschaftspolizei löste den Aufzug nach kurzer Zeit auf, als ein bekannter polnischer Punkrocker samt Boombox spielte. Ein seltsamer, verstörender Akt – weil absolut unnötig, aber wohl weitestgehend ohne Folgen in Sachen deutsche Bußgelder für polnische Mitbürger.
Am 4. Mai reagierte die polnische Regierung erstmals und erlöste einen Teil der Pendler von der Quarantänepflicht – allerdings blieben sensible Branchen wie Medizin oder Pflege davon ausgenommen. Wie jene der jungen, sichtlich verzweifelten Polin, die zwölf Stunden täglich in einem Görlitzer Altenheim arbeitet und nun in einem Hotel wohnt: Ihr Sohn hatte Ostern, der Ehemann am ersten Demonstrationstag Geburtstag – beides ohne sie, kein Ende der Trennung in Sicht. Am Rand der Brücke stehend zeigt sie auf die andere Seite: nur zweihundert Meter sind es bis zu ihrer Wohnung. Eine just zerbrochene schöne neue EU-Welt.
Am 8. Mai, den dritten bemerkenswerten Freitag im Coronakoma, dürfen sich auf der Altstadtbrücke zum Festakt nur die Popen am ausgefahrenen Ellenbogen berühren. Der Zaun steht inzwischen in der Mitte, und ist mit rot-weißen Rosen bestückt. Alle anderen tragen Masken, auserwählte Eliten feiern ihre Befreiung (ohne Befreier) für einen erlauchten Kreis mittags um eins auf der Altstadtbrücke.
Nähert man sich nun, als normaler Mensch mit Fotoapparat getarnt, der Flußmitte, kommt ein sportlicher polnischer GI strammen Schritts herbei und versucht, das Knipsen auf Englisch zu verbieten. Der leisen deutschen Bitte, doch mit dem Quatsch endlich aufzuhören und den albernen Zaun auf der von EU-Mitteln zur EU-Osterweiterung gebauten Brücke wegzuräumen, kommt er nicht nach. Es bleibt wohl bis 15. Juno beim Zustand von 1981. In erster Linie auf Kosten der polnischen Pendler. Spätere Risiken und Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen.
Andreas Herrmann
Anmerkung der Redaktion: Am 12. Juno wurden Punkt 24 Uhr von den beiden Oberbürgermeister medienträchtig die Ketten mit Bolzenschneidern zerschnitten, ein masken- und abstandsfreies Freudenfest begann – Görlitzer Töchter aus Elysium waren feuertrunken.