Unser Reporter Henning Rabe berichtet vom 32. FilmFelstival Cottbus.
Im wieder goldenen November renne ich erst einmal in die Kammerbühne. Niemand da, es ist das falsche Kino! Wie kann man nur so unsortiert sein. Einen Vorteil hat meine leichte Verspätung im Weltspiegel allerdings: Ich muss den Auftrags-Song „Jwd“ von Finch Asozial nicht schon wieder hören. Bis zu vier Mal am Tag ist wirklich hart!
Der Kino-Tag beginnt mit dem Vorspann von Have you seen this woman? von Dušan Zorić und Matija Gluščević aus Serbien. Gezeigt werden drei Episoden mit derselben Darstellerin, Ksenija Marinković, die jedes Mal eine andere Frauenfigur über 50 verkörpert. Einmal ist sie eine Staubsauger-Vertreterin, die sich mehr schlecht als recht über Wasser hält, das nächste Mal eine angesehene Oberärztin, am Ende eine Obdachlose.
In der mittleren Episode stiehlt die Ärztin ein Baby und viele Flaschen mit Muttermilch, mietet sich einen Tagelöhner, den sie als ihren Mann ausgibt, und präsentiert das Familienglück per Zoom ihrem Bruder, der in Australien lebt. Als sie das Baby nach zwei Tagen zurückbringt, entblößt sie in der Klinik ihre Brüste, aus denen munter die Milch fließt, während alle Babys der Station hungrig zu schreien anfangen.
Ansonsten gibt es einiges an Unappetitlichkeiten in dem Streifen. Die sind jedoch nicht zum Hinausgehen oder spekulieren auf einen Skandal – nein, diese jungen Serben wollen vielleicht provozieren, auf jeden Fall aber neue Wege finden. Ich denke da an Ulrich Seidl, Takashi Miike aber auch David Lynch.
Die Verknüpfung der Episoden bleibt rudimentär, es macht den Film jedoch nicht weniger interessant, dass man ihm die drei Kurzfilme, aus denen er entstanden ist, deutlich anmerkt.
Ballade heißt der bosnische Spectrum-Beitrag von Aida Begić. Protagonistin Meri möchte ihr kleines Kind, das beim Vater lebt, zurückholen. Doch hat sie nicht einmal einen offiziellen Trauschein. Der Anwalt, den die immer noch helicopternde Mutter besorgt, will ihr nur gegen eine Beziehung wirklich helfen. Der Bruder schließlich ist bei der lokalen Mafia verschuldet: Was nach bedrückendem Sozialdrama klingt, kommt in Wirklichkeit als recht angenehme, sympathische, wenn auch dramaturgisch oft zu behäbige Milieu-Studie daher, die ihre Länge von zwei Stunden meist auch trägt.
Richtig gut wird die Ballade ganz am Ende, als die Variationen des letzten Aktes einfach nicht mehr zusammenpassen und in der allerletzten Szene Meri und ihr Kind als nicht verwandte Schauspielerinnen vom Set spazieren und über ein gutes Ende kontemplieren.
Volle Hütte im Glad-House gibt es anschließend bei Ein Tunnel aus Georgien. Sechs Jahre lang begleiteten die Regisseure Nino Ordshonikidse und Vano Arsenischwili den Bau eines Tunnels durch zwei zentralgeorgische Bergdörfer. Innerhalb des Projektes Neue Seidenstraße bauen die Chinesen eine neue Bahnlinie, die das Leben der Bewohner gehörig durcheinanderwirbelt. Durch die Arbeiten entstehen Steinschläge, vormalige Ackerflächen am Hang bekommen Risse. Und das Allerschlimmste ist die Ungewissheit, ob das eigene Dach über dem Kopf erhalten bleiben darf. Manche der Dörfler wurden seit fünf Jahren im Unklaren darüber gelassen, ob ihr Haus abgerissen wird oder nicht. Die Behörden und Regierung interessieren sich natürlich nicht für die Ängste der Ortsansässigen.
Dem gegenübergestellt werden Werbespots und Abschnitts-Eröffnungen, in denen das Projekt – unter Beteiligung der Deutschen Bahn – gefeiert wird. Ein ansehnlicher Film. Hier muss ich allerdings noch einmal auf den gestern erwähnten chinesischen Dokumentar-Filmer Wang Bing und seine Kollegen der sog. Sechsten Generation zurückkommen. Diese lassen sich generell viel mehr Zeit: Für einzelne Charaktere, für Alltagsgespräche und für Streit-Situationen. Auch für vermeintlich leere Einstellungen, in denen die Landschaft oder der Wandel der Jahreszeiten gezeigt wird.
Hier ist das Geschehen stark auf die wichtigsten und prägnantesten Ereignisse eingedampft, und das gibt mir das Gefühl, dass mit einer gedehnteren Länge wirklich mehr zu sehen gewesen wäre. Trotzdem ein aussagekräftiges, schön anzusehendes Dokument über den Wandel in unserer Zeit.
Murina von Antoneta Alamat Kusijanović aus Kroatien krönt den Festival-Donnerstag. Auf einer dalmatischen Insel entspinnt sich ein subtiles Kammerspiel, das sich beinahe ganz auf die geschickten Führung der Charaktere und ihres Verhältnisses zueinander verlässt.
Da ist ein kroatischer Kapitän, der vom großen Geld träumt und ziemlich unausstehlich mit Frau und Tochter Julija umgeht. Ich dachte gar, oh, der muss wohl am Ende um die Ecke gebracht werden. Nun wird die Familie von einem alten Freund besucht, einem erfolgreichen amerikanischen Geschäftsmann. Julija (17) verguckt sich gleich in den weltgewandten Latin Lover. Mit der Mutter hatte der sowieso schon mal etwas, wie der Zuschauer rasch ahnt. Läuft jetzt schon wieder was zwischen den beiden?
Für Julija wird nach einer Eskalation des vorher nur unter der Oberfläche Brodelnden klar, dass sie ihren widerlichen Vater verlassen und sich dem Besucher anschließen wird, egal, wie. Bis sie und der Betrachter erfahren, dass die Dinge in der Vergangenheit doch ein wenig anders lagen …
Bemerkenswert ist neben dem bekanntlich wunderbaren Blau der Adria, dass beinahe die gesamte Vorstellung völlige Ruhe im Zuschauerraum ist. Ich werde das weiter beobachten, Zwinker-Smiley.
Mehr Infos und Programm: