Wehmut mit Allegorie

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Führung auf dem Hauptfriedhof Forst

Seit einem Jahr haben wir als Kollektiv nicht nur über Mikroorganismen dazugelernt, sondern stehen auch in einer intensiven Auseinandersetzung mit dem über alles stehenden Finale. Täglich konsumieren wir Begrifflichkeiten wie Übersterblichkeit, Infektionssterblichkeit, Sterbefallzahlen, Todesraten, Corona-Tote… Grund genug, die letzte Ruhestätte einmal genauer wahrzunehmen.

Ich treffe mich mit Barbara Petri auf dem Hauptfriedhof in Forst. Die gebürtige Vogtländerin kennt den Ort genau, schließlich arbeitete sie hier 30 Jahre lang in der Friedhofsverwaltung – 20 davon als Leiterin des Krematoriums. Seit einigen Jahren führt sie interessierte Besucher über die Begräbnisstätte. Es ist ein grauer Tag und sehr, sehr kalt.

Berühmter Gehirnforscher: Prof. Dr. med. Korbinian Brodmann

Woher rührt eigentlich die besondere Stimmung eines Friedhofs? Es dauert stets eine kleine Weile bis der Effekt eintritt, bis die Lautstärke von draußen in einem verhallt, aber dann ist die Quelle präsent: Abwesenheit von Lärm. Alsdann tauchen wir in eine Welt voller Allegorien und Symbolik ein. Immergrüne Bäume spenden gedämpftes Licht und stehen für das ewige Leben. Trauerbäume mit hängenden Ästen wie Weide und Buche spenden Anteilnahme. Der sich festklammernde Efeu symbolisiert Treue und Unsterblichkeit. Grabblumen leuchten in ihren Farben bedeutungsvoll. Auf Grabsteinen und Grabanlagen deuten uns vielerlei Zeichen magisch entgegen, meist religiöser, stets aber philosophischer und poetischer Natur. In diese Schwingungsfrequenz läuft so ein quietschlebendiges Stadtmenschenkind unbedarft hinein und wird still.

Frau Petri sagt: „Ein Grabstein sollte zum Begrabenen passen.“ Sie erzählt vom Gedenken ihrer Mutter. Ein schwarzer, glatter Stein mit goldener Inschrift kam nicht in Frage, das passte nicht. Dann sah sie beim Steinmetz einen Findling liegen. Der wäre nur dort, damit die Autos nicht auf seinen Rasen fahren, meinte der Steinmetz, doch Frau Petri blieb entschlossen. Ihre Mutter war eine einfache Frau, jedoch der Fels der Familie – der Grabstein ward gefunden.

Bauhaus-Gotik-Mix trifft DDR-Plattenbau

1870 wurde der Forster Hauptfriedhof eröffnet, mitten in die Zeit der goldenen Jahre als Tuchmachermetropole. Der alte Friedhof (heute Stadtpark Mitte) war dem Bevölkerungszustrom längst nicht mehr gewachsen. Überhaupt spiegelt der Friedhof die jüngere Stadtgeschichte ziemlich genau wieder. Der Protz der Fabrikantenfamiliengruften bröckelt ebenso wie ihre einstigen Werkshallen. Verschiedene Anlagen für gefallene Soldaten zeugen von verschiedenen Kriegen. Erinnerungen an die Opfer des Faschismus wühlen im Anstand. Hinter dem architektonischen Blickfang Krematorium (1929) steht ein DDR-Plattenbau des Betriebsamtes. Ein Totenacker besteht aus umgesiedelten Gräbern der wegen Kohle abgebaggerten Friedhöfe von Klinge und Weißagk. Letzte Ruhestätten von Persönlichkeiten der Stadt Forst werden hervorgehoben. All das ist Geschichte aus einer besonderen Perspektive.

Wahrscheinlich gibt es kein Grab, zu dem Frau Petri keine Anekdote erzählen könnte. Sie ist mit Herzblut dabei und es macht Spaß ihr zuzuhören. Es gibt viele Themen: Beruf und Lebensleistung der Verstorbenen, Beschaffenheit und Herkunft des Grabsteins oder der Urne, Einsatz der Ornamente und deren allegorische Deutung, mögliche Ausrichtung der Toten nach Osten, unterirdische Katakomben, Grabpflege, Diebstähle, Hinterbliebene…

Spannende Führung: Barbara Petri

Großes Thema: Der Friedhof im Wandel der Zeit. Die Forster Bevölkerung schrumpft stetig. Immer weniger Menschen kümmern sich um die Gräber ihrer Verwandten. Überhaupt sind die Leute heutzutage kaum bereit, Geld für Begräbnis und Grabpflege auszugeben. Viele Wiesen, auf denen noch vor einem Wimpernschlag geschmückte Gräber ruhten, stehen wehmütig leer, wartend auf neuen Sinn. Der Trend geht zur anonymen (Feuer-)Bestattung. Frau Petri spricht zuversichtlich von der Nutzung neuer Möglichkeiten. Für Bestattungswiesen und ähnlichen Formen gäbe es Platz, aber für herkömmliche Begräbnisse halt auch. Neben Grabmalpatenschaften (BürgerInnen übernehmen die Kosten bzw. Pflege historischer Grabmäler und können im Todesfall das betreute Grab selbst und/oder für Verwandte nutzen), steht der Friedhof Forst für Auswärtige offen. Sprich: Wem der lokale Friedhof unpassend erscheint (z. Bsp. zu kostenintensiv) und flexibel beim Standort seiner Ruhestätte ist, der findet in Forst ein effizientes Begräbnis mit allem Drum und Dran. Letzte Ausfahrt Forst.

Daniel Ratthei

Mein Tipp: Man hätte durchaus prominente Gesellschaft. In Forst liegen berühmte Gehirnforscher, Adlige, Fabrikanten, Heimatdichter, Spielleute, Tänzerinnen, Eisenbahner, der ehemals stärkste Mann der Welt oder der letzte Wirtschaftsminister der DDR. Wer Lust auf eine Friedhofsführung in Forst hat, melde sich beim Museumsverein im Textilmuseum Forst – 03562/97356.     

 

 

 

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