Poetry Slammerin Julia Engelmann über Glück, Erfolg und ein gutes Bauchgefühl

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Julia Engelmann hatte 2013 den „Urknall ihrer Karriere“, als sie mit ihrem Poetry Slam „One day“ in einem Hörsaal in Bielefeld auf Youtube berühmt wurde. Mittlerweile hat das Video über 14 Millionen Klicks. Seitdem hat sie sechs Spiegel-Bestseller Bücher geschrieben, die sie allesamt selbst illustriert und als Hörbücher eingesprochen hat. Zusätzlich hat die vielseitige Künstlerin ihre Texte musikalisch in einem „Poesiealbum“ vertont.

Im Mai wollte Julia Engelmann mit ihrem Musik- und Poesievent „Glücksverkatert“, in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf Tour gehen, u.a. auch am 7. Mai 2022 in Cottbus. Schweren Herzens musste sie, aus gesundheitlichen Gründen, die gesamte Tour ersatzlos absagen. Bereits gekaufte Tickets können an den jeweiligen Vorverkaufsstellen zurückgegeben werden, an denen sie erworben wurden.

HERMANN hatte vorab ein sehr interessantes Interview mit Julia Engelmann geführt, welches wir den Leser*innen dennoch keinesfalls vorenthalten wollen.

 

In deinen Gedichten geht es immer wieder um die Suche nach dem Glück. Was bedeutet Glück für dich?

Glück bedeutet für mich einen zufriedenen Alltag zu haben, ein befreites Leben zu führen, mich entwickeln zu dürfen und auch in Sicherheit und gesund zu sein. Auch das Leben irgendwie zu verstehen oder immer mal zumindest ein bisschen zu denken, dass ich es verstehe.

Dein neues Programm heißt „Glücksverkatert“, wovon bist du jetzt speziell „Glücksverkatert“?

Ich bin das immer mal wieder. Für mich ist das die Melancholie nach schönen Momenten. Das gehört dazu, weil in einem schönen, glücklichen Moment denkt man nicht so darüber nach und danach ist es gefühlt oft schnell vorbei und das heißt dann „glücksverkatert“ zu sein für mich.

Wie sieht dein Rezept für ein glückliches Leben aus?

Ich habe für mich entdeckt, dass es mir ein wahnsinnig guter Berater ist, auf mein Bauchgefühl zu hören und auch ehrlich mit mir und meinem Umfeld zu sein. In meiner Jugend habe ich sehr lange gedacht, niemand ist wie ich, ich bin ganz alleine mit allem und anders. Dann hab ich gedacht, nee vielleicht sind wir alle voll gleich. Mittlerweile bin ich schon an dem Punkt angekommen, an dem ich verstehe, dass die Welt wahnsinnig komplex ist und ganz viele Leben sind unglaublich unterschiedlich, auch wenn wir als Menschen irgendwie ähnliche Bedürfnisse und Fragen haben. Deswegen könnte ich niemandem, außer mir selbst, ein Rezept empfehlen.

Was würdest du denn all denen mitgeben, die sich auch irgendwie anders fühlen und nicht so ihren Platz in der Welt, in der Gesellschaft finden?

Was bei mir eine wahnsinnig wichtige Veränderung in meinem Weltbild war, über die letzten 20 Jahre, dass ich für mich begriffen habe, dass ich immer so viel Teil von etwas bin, wie ich mich auch beteilige. Ich war sehr lange immer sehr still und zurückhaltend in Gruppen und sozialen Situationen und hab mich dann immer gefragt, warum ich nicht dazugehöre. Aber ich habe auch nie was gesagt. Ich habe für mich gelernt, dass ich mich auch beteiligen kann an meinem Leben, aber auch in Situationen und, dass niemand irgendwas so viel besser weiß, als ich. Das würde ich mir im Nachhinein raten: Nicht zu sehr auf diese Geschichte hören, die ich mir da erzähle, dass ich ein Außenseiter bin. Ich glaube das war für mich eine der wichtigsten Erkenntnisse.

Was würdest du denen mit auf den Weg geben, die wie du sie nennst „Stille Poeten“ sind oder auch junge Schriftsteller, Künstler?

Ich würde sagen, dass man sich auf seinen Geschmack verlassen kann und auch auf diesen Gedanken. Zum Beispiel, als ich das erste Mal Poetry Slam gesehen habe, hab ich gedacht: „Boah, ich glaub, das könnte ich auch“. Aber ich hab noch nie bei einem olympischen Turmspringer gedacht: „Boah, ich glaub, das könnte ich auch“. In dem Moment, wo man das Gefühl hat, das passt zu mir, stimmt das. Jemand der denkt, ich glaube, ich kann schreiben oder ich möchte schreiben, der hat damit Recht. Das würde ich ernst nehmen.

Wenn du an all die Geschichten in deinem Leben denkst, die du bis jetzt erlebt hast, was löst das in dir aus?

Ich bin wahnsinnig dankbar und ich bin auch stolz auf mich und unglaublich neugierig auf die 30er, die jetzt bei mir vor der Tür stehen.

Wie haben sich dein Programm und die Themen, mit denen du dich beschäftigst und über die du schreibst, im Laufe der Zeit verändert?

Ich hab mich verändert und dadurch verändert sich natürlich auch mein Programm. Auch wie ich über Dinge denke und spreche. Gleichzeitig glaube ich, ist das immer ein bisschen zeitversetzt. Also so, wie wenn man in einem ICE sitzt und der bremst, dann merkt man erst einen Moment später diesen Ruck. Ich glaube, es dauert einfach immer ein bisschen, Sprache für das eigene Erleben zu finden. Was sich auf jeden Fall schon verändert hat, ist, dass ich besser aushalten kann, das Dinge nicht schwarz weiß sind oder auch nicht immer ein „Happy End“ haben. Ich bin auf jeden Fall sehr optimistisch und hoffnungsaffin. Aber früher hab ich daran gedacht, dass ich möglichst schnell aus negativen oder negativ konnotierten Gefühlen raus muss, also Trauer oder Wut und das sofort mit einem Satz wie: „Na ja, aber wird schon“ abrunden muss. Ich habe für mich verstanden, dass Gefühle da sind, um sie zu fühlen und nicht, um sie zu rational weg zu sprechen. Im besten Fall hört man das auch in meinen Texten und Liedern.

Gut, dass du das ansprichst. Du singst in deinem Lied „Grapefruit“ über mentale Gesundheit. Was heißt es für dich, deine eigene beste Freundin zu sein?

Das heißt, dass ich daran arbeite, gut mit mir selber zu sprechen und auch über mich selber zu sprechen. Ich habe gerade heute ganz viele Texte für mein neues Buch abgeben müssen und irgendwie geht es voll schnell, dass ich sage: „Es hätte auch alles viel besser sein können.“ Da versuche ich mich dann zu stoppen und zu sagen: „Nee, ich finde, ich hab das gut gemacht.“ Für mich heißt es, das Gute zu sehen und geduldig mit mir zu sein, vor allem echt geduldig. Eher zu sagen: „Ach guck mal, das hab ich doch geschafft“, statt zu sagen, was ich alles nicht bin oder noch nicht geschafft habe. Das ist aber gleichzeitig ein normales Symptom unserer Gesellschaft. Dass man schnell defizitär auf Dinge guckt.

Spürst du denn, seitdem du so erfolgreich und bekannt bist, einen höheren Druck irgendwelchen Erwartungen gerecht zu werden?

Ich fühle mich nicht bekannt. Meine Idee von Erfolg hat sich sehr verändert über die letzten Jahre.

Was ist denn mittlerweile deine Idee von Erfolg?

Früher habe ich immer gedacht, Erfolg ist, wenn ich gesehen werde, bewundert werde, weil ich mich immer steigere, in objektiven Sachen, z.B. der Saal, in dem ich auftrete, wird größer oder mehr Leute lesen meine Bücher. Das hätte ich für: „Wow bin ich erfolgreich“ gehalten. Ich verstehe natürlich auch, wie man darüber so denken kann. Aber für mich bin ich erfolgreich, wenn ich zum Beispiel auf mein Bauchgefühl höre und irgendwo sage: „Das möchte ich. Das möchte ich nicht.“ Wenn ich einen schönen Alltag führe, mit dem ich glücklich und zufrieden bin, auch wenn keiner drauf schaut und auch wenn keiner von außen denken würde, das ist jetzt Erfolg. Ja, ich würde sogar sagen, dass für mich Erfolg ist, wenn ich mich traue, meinen Erfolg selbst zu definieren.

Seitdem du in der Öffentlichkeit vertreten bist, mit deinem Programm und deinen Büchern und auch auf Social Media, fällt es dir dadurch schwerer, dir selbst treu zu sein?

Es hat mich auf jeden Fall 2018 als ich zunächst auf Tour war, unter Druck gesetzt, weil ich eben irgendwie dachte, es muss jetzt alles immer so weitergehen oder besser werden. Aber ich glaube mittlerweile, dass wir auch gesellschaftlich, so ist jedenfalls mein Eindruck, ein Missverständnis darüber haben, wie Kreativität funktioniert. Ich hab das Gefühl, wenn einer ein tolles Lied schreibt zum Beispiel, einen Welt Hit, dann ist die Vorstellung davon, dass es dann verpflichtet oder, dass es so weitergehen muss. Wenn dieser jemand zum Beispiel nie wieder so ein Lied schreibt, das alle hören, dann habe ich das Gefühl, wird das immer so abgetan als, da hat jemand was nicht geschafft oder da ist jemand nur ein One-Hit-Wonder, der Erfolg ist jetzt vorbei. Aber ich finde, wenn man in einem Leben eine schöne Idee hatte, die jemand anderes mag, ist das schon wahnsinnig viel! Das hat sich bei mir verändert, dass ich denke, nur weil ich, oder auch jemand anders mal aufgetreten ist oder irgendwas Schönes zum Teilen hatte, heißt das nicht, dass es so weitergehen muss. Das Leben ist viel nuancierter als das. Das führt bei mir auf jeden Fall zur Entspannung.

Was inspiriert dich, wenn du schreibst?

Der Wunsch die Welt zu verstehen. Sprache zu finden, für Dinge, die sich irgendwie diffus oder unaussprechlich anfühlen, das inspiriert mich am meisten.

Welche Bedeutung hat es für dich, deine Poesie mit Musik zu verbinden?

Ich konsumiere selber wahnsinnig viel Musik. Musik ist einfach nochmal eine andere Sprache. Ich mag das ja alles gern, zeichnen, singen. Deswegen finde ich das total schön, mich so viel dimensional wie möglich auszudrücken.

Was erwartet das Publikum bei „Glücksverkatert?“

Ganz viele schöne Gedichte und neue Lieder. Ich bin nun überhaupt nicht objektiv, aber auch eine tolle Band, die dieses Mal mit dabei ist. Meine Lieblingsmusiker, die immer dabei sind, sind mit an Bord, aber auch noch eine Pianistin. Es wird ein super schöner, gemütlicher Abend.

Wenn du zurück denkst, von dem Moment an, wo du mit „One Day“ angefangen hast und wo du heute stehst, wie würdest du dich beschreiben, wo warst du und wo bist du jetzt?

Es hat sich wahnsinnig viel verändert und ich habe mich wahnsinnig viel verändert und gleichzeitig bin ich aber auch immer noch die gleiche Person. Ist eine komplexe Frage.

Du hast den Begriff „melankomisch“ geprägt, was bedeutet er für dich und fühlst du dich noch so?

(sie lacht) Ja. Ich fühle mich oft melancholisch, aber vielleicht sogar ein bisschen weniger. Ich hab das Gefühl, dass ich ein bisschen an Leichtigkeit gewonnen habe in den letzten Jahren. Ich habe auch mehr Raum für alle Gefühle geschaffen. Also ich fühle mich auch noch melancholisch, aber ich finde das selber nicht mehr so komisch.

Würdest du sagen, du bist mittlerweile ganz gut darin, dein „Dopamin“ zu vergeuden?

(sie lacht) Ja. Safe!

In deiner „Bestandsaufnahme in 3 Teilen“ sprichst du davon, dass du Vertrauen ins Leben, in die Entwicklung hast, dass alles einen Grund hat. War diese Einstellung für dich der Wegbereiter?

Auf jeden Fall. Ich glaube tatsächlich, wenn ich nochmal zur Frage davor an „One Day“ denke, dass die Texte, die ich mit 20 geschrieben habe, für mich auch schon Wegweiser waren oder wie Angeln, die ich ausgeworfen habe in bestimmte Richtungen. Ich glaube, weil ich mir gewünscht habe, dass bestimmte Dinge für mich eintreten, sind sie auch eingetreten. Weil ich z.B. gedacht habe, ich möchte meine eigene beste Freundin sein oder ich möchte wirklich glücklich und befreit in meinem Leben sein, dadurch bin ich das jetzt auch, weil ich das gesucht habe. Nicht nur, weil ich daran gedacht habe, ich meine jetzt nicht im Sinne von manifestieren, sondern, dass ich mir mit diesen Gedanken den Weg dafür bereitet habe.

Wonach strebst du noch, wenn du schon ganz viel Glück gefunden und dein Dopamin vergeudet hast, wo siehst du dich in den nächsten Jahren, wo willst du noch hin?

Gute Frage. Ich finde es auch einen schönen Zustand, nicht das Gefühl zu haben, ich muss jetzt ganz schnell irgendwo hin. Das hat sich verändert. Ich fühle mich ruhiger deswegen. Ich bin weiterhin einfach neugierig, wo mich das Leben hinführt. Ehrlich gesagt, bin ich auch schon dankbar, wenn wir in Frieden hier leben können und gesund sind. Das hat sich in der letzten Zeit, auch aktuell, nicht als selbstverständlich erwiesen. Ich bin schon glücklich, wenn ich überhaupt den Raum habe, irgendwohin zu wollen.

Wie wichtig ist für dich die Unterstützung, die du von deinen Eltern bekommst?

Die ist wahnsinnig wichtig. Meine Eltern sind auch maßgeblich daran beteiligt, dass ich mich kreativ so entwickeln konnte, weil sie mir immer Zuspruch gegeben haben und auch eine gewisse Sicherheit. Das war auf jeden Fall schon wichtig.

Was bedeutet für dich Familie?

Gute Frage, ist echt eine gute Frage. Ich finde Familien irgendwie spannende Konzepte, das Zusammenwürfeln von Menschen. Familie bedeutet vielleicht Gemeinsamkeiten zu finden, obwohl man Unterschiede hat.

Was macht für dich eine gesunde Beziehung aus, ob zu dir selbst oder zu anderen Menschen?

Ehrlichkeit, Grenzen setzen und akzeptieren, gute Kommunikation, Verletzlichkeit, gute Absichten.

Was war deine wichtigste Erkenntnis im Leben?

Weiß ich noch nicht, ob ich die schon hatte, vielleicht kommt die noch. Ich würde sagen, auf mein Bauchgefühl zu hören, ist schon wahnsinnig wichtig gewesen.

Stell dir deinen letzten Moment vor, bevor du von dieser Erde gehst, was würdest du dir wünschen, wie du auf dein Leben zurückblickst?

Gute Frage. Friedlich glaube ich. Ich wünsche mir Frieden.

Was macht denn Frieden für dich aus?

Die Abwesenheit von Unruhe und dem Wunsch, dass irgendwas anders ist.

Du willst auch etwas an der Welt verändern und mit bewegen, soweit ich das verstehe. Wenn du eine Sache direkt verändern könntest, was wäre das?

Dass Menschen an sich glauben. Dass sie ihre Bedürfnisse und Gefühle ernst nehmen. Ich denke auch an viele junge Menschen, die mir schreiben, dass sie Probleme haben. Was auch zum Leben dazugehört, dass man natürlich Entwicklungsaufgaben bewältigen muss. Aber ich wünsche mir da auch Milde und Frieden für Menschen. Falls das nicht übergriffig ist, nur wenn sie das wollen.

 

Interview: Tracy Neumann

 

Bildunterschrift: Dichterin, Musikerin, Schauspielerin Julia Engelmann, Foto: Marta Urbanelis

 

 

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