Schon gelesen: Schonung bringt uns nicht weiter

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Als ich Jaroslav Rudiš vor zwei Jahren bei einer Lesung auf Usedom kennen lernte, da war ich gekommen wegen des Dichters Reiner Kunze. Weil der jedoch erkrankt war, sprang von Jetzt auf Gleich der tschechische Schriftsteller und Dramatiker ein. Der auch auf Deutsch schreibende Rudiš sollte ohnehin während der Festwoche dort den Usedomer Literaturpreis bekommen und musste somit seine Lesung vorziehen.

Aber man stelle sich das vor: Wegen Kunze angereist und dann in Windeseile für einen unbekannten Autor Interesse entwickeln müssen. Und das sollte mit mir ein ganzer Lesesaal voll Kunze-Publikum schaffen! Sind wir also faire, offene Bücherfans oder Fans nur von Lieblingsautoren? Rudiš war davon unbeeindruckt, er kam, las, erzählte und siegte. Seinen Roman vom Ende des Punks in Helsinki aus dem Jahre 2014, der ihn für den Preis empfahl, haben wir dann hier im Heft auch direkt begeistert vorgestellt. Alles hängt mit allem zusammen – das war ein Schlüsselsatz aus dem 2014er Roman.

2013 erschien bereits auf Tschechisch Rudiš` monologischer Roman „Nationalstraße“, der nun auch ins Deutsche übertragen bei Luchterhand verlegt ist. 2013. 2016. Es erschrickt einen gründlich, wenn man sich die Jahreszahlen verdeutlicht, denn Rudiš hat also schon länger einen Typus Mensch im Visier, der uns gerade erst entstanden scheint. Vandam ist die Hauptfigur des neuen Romans, die im Selbstgespräch über sich redet, von dem, was sie mal war und was sie glaubt, heute zu sein. Und Vandam redet von dem, was er für richtig hält in der Welt, lebt er doch sein Leben heute in seiner Stammkneipe in einer Prager Plattenbausiedlung. Und wie Jean-Claude Van Damme liebt er seine Fäuste und seine Trinkfestigkeit. Klar, dass er im Fußballstadion auch schon mal die rechte Hand zum rechten Gruß hebt. Aber er ist Europäer, warum soll er nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen? Man muss doch die eingerostete Geschichte der Welt wieder höchstpersönlich in Gang setzen! Man ist doch stark, man schlägt eine Schlacht nach der anderen, wie es immer in der Weltgeschichte war, eine Schlacht nach der anderen. Er war ja auch schon dabei, als 1989 die Samtene Revolution begann. Krieg haben sie immer gespielt, schon als Kinder.

Jaroslav Rudiš sagt im Nachwort, dass es für Vandam ein reales Vorbild gibt, das er in einer Prager Kneipe getroffen hat. Wir hätten wohl dieser Autorenerklärung heute, 2016, nicht mehr bedurft. Aber das ist eine andere Geschichte.

Reiner Kunze also und die Ostsee hängen mit Jaroslav Rudiš zusammen, und Rudiš, der bemerkenswerte Erzähler unserer abgründigen Charaktere und Mythen, hängt mit allem zusammen, und vor allem mit unserer schonungslosen Zeit.

 

Kathrin Krautheim

 

Jaroslav Rudiš: Nationalstraße. Luchterhand Literaturverlag. München, 2016. 159 Seiten. 14,99 Euro. Auch als E-Book, 7,99 Euro.

 

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