Das 16. Neiße-Filmfestival richtete den Fokus auf die Spezies Homo politicus und feierte neun Fischgewinner

Trinational im Dreieck – das Neiße-Filmfestival, abgekürzt NFF, tobt nicht nur an der Neiße zwischen Liberec und Görlitz, sondern vor allem im Oberlausitzer Bergland entlang der Mandau, aber auch im Bautzener Steinhaus an der Spree und dem Sudhaus am Löbauer Wasser und feierte im Mai anno 2019 seine 16. Auflage. Über 7.500 Zuschauer in rund 120 Veranstaltungen an 20 Stationen in 13 Orten stehen dabei in der Chronik, zehn Neißefische und 21 000 Euro Preisgeld wurden vergeben. Ansonsten prägten kühles Wetter, weite Wege und ein paar Absagen das etwas andere Filmfest, welches durch Herzlichkeit, unzählige Kümmerer – gedankt wurde 250 – und einem allumfassenden Shuttleservice glänzt.

Letzterer kurvt für je einen Fahrertaler zwischen dem Zittauer Kronenkino, der Mittelherwigsdorfer Kulturfabrik Meda sowie dem Kunstbauerkino Großhennersdorf als Keimzelle auffällt, wobei die Ehrengäste nicht im Ostritzer Neißeblick, sondern im Hotel Dreiländereck unterkommen. Noch ein Novum: die Filmgespräche unterm Baum, meist lange am glühenden Feuertopf gegen die eisheilige Abendkühle, wieder auch von den Deutsch-sorbischen Filmschaffenden der Lausitz zum achten Netzwerktreffen genutzt, die sich diesmal übers „Pitchen“ von Filmideen unterhielten.

Doch fangen wir von hinten an: Die Preisverleihung im Dom Kultury in Zgorzelec, durch eine nahezu verdoppelte Preisgeldsumme unterm großartigen brustfreien Engel, der das Eingangsportal des einstmals als kaiserliche Ruhmeshalle gedachten Bauwerkes schmückt,  arg aufgewertet, sah viele glückliche Sieger: Zehn Riesen und einen Neißefisch als Skulptur gab es als freistaatlichen Hauptpreis für ein teils surreales, aber konsequentes und überaus abstrakt-intelligentes Filmwerk von Susanne Heinrich, Oschatzerin des Jahrgangs 1985, die sich als gelernte Schriftstellerin Drehbuch wie Szenerie selbst zur Regie stiftete.

NFF

Ein aufrechter SPD-Landrat als Homo politicus: Der gefeierte Ehrengast Hans Schuierer kam eigens ins Kunstbauerkino Großhennersdorf, um den Kampf gegen „Wackersdorf“ zu erläutern.
Foto: NFF / Hannes Roensch

Zeitprobleme der Postmoderne

Sie brachte „Das melancholische Mädchen“, welches auf der Suche nach einer Schlafstätte durch eine jener immer gleichen westlich-neoliberalen Großstädte streift und sich damit schon den Max-Ophüls-Preis abholte, in Form ihrer Filmheldin Marie Rathscheck gleich mit, um aus den Händen der Stifterin, Sachsens Kunstministerin Eva-Maria Stange den nun „Drei-Länder-Filmpreis“ genannten weißen Goldfisch abzuholen. Heinrich bemerkte süffisant, dass sie es genieße, wenn Kunst mal nicht von der Politik vereinnahmt werde und dass dieses Preisgeld besonders wertvoll sei, „weil es nichts von ihr wolle“. Und gäbe es einen Preis für gelungene Galakostüme zum nice Fischfang, hätten beide diesen auch mitgenommen, wobei sich Rathscheck als Blickfang vor der Fotowand dann auch noch live das Haar liftete – großes Kino!

Allerdings in dürftiger Kulisse bei seltsamen Buffet hernach, wobei die Görlitzer Kulturbürger, die sich als selbsternannte „Görliwooder“ in anderen Ligen sehen, das aus dem Südkreis importierte Ereignis gerne ignorieren, während es sich Zittaus Oberbürgermeister Thomas Zenker – mit „Zittau kann mehr“ just im Endspurt zur Kommunalwahl und zum integrierten Bürgerentscheid zur EU-Kulturhauptstadtbewerbung für 2025 – nicht nehmen ließ, zwei Mal zu erscheinen und seinen auf drei Dreiecksriesen vermehrten Doku-Fisch selbst zu überreichen.

Und das trotz zweier hypermedialer Boni in Form der MDR-Maifeier am Grenzflußdreieck und des zum Ereignis stilisierten ZDF-Morgenmagazins vom Marktplatz, wobei beide Redaktionen das Kunststück fertigbrachten, die beiden wichtigsten trinationalen Festivals, also das parallele NFF und das Theaterfestival JOŚ (wieder vom 22. bis 26. Mai) als wohl trächtigste Volksverbindungsmaßnahmen zu ignorieren. Zenker zeichnete den Polen Rafał Łysak für „Miłość bezwarunkowa“, was „Bedingungslose Liebe“ und die familiären Folgen eines Outings in Polen bedeuten kann, aus.

NFF

Doppelfisch für Drehbuchautorin: Gabriela Muskały schrieb die Dialoge zu „Fuga“ und spielte gleich die Hauptrolle. Der Film hatte zudem das beste Szenenbild von Jagna Dobesz.
Foto: NFF / Claudia Glatz

Besinnung aufs Zwischenmenschliche

Trotz der Görlitzer Malaise zu erwähnen: Der Doppelgewinn von „Fuga“, also „Flucht“, von Agnieszka Smoczyńska als polnisch-tschechisch-schwedische Kooperation inszeniert, für die es 3000 Europastadteuro für das beste Szenenbild von Jagna Dobesz gab – und dazu noch ein tschechischer Tausender aus Liberec zur Premiere vom besten Drehbuchpreis für Gabriela Muskały, die sich auch mit zwei Fischen im Arm souverän präsentierte – und die Hauptrolle spielte. Ebenso erwähnenswert: der beste Kurzfilm, den der Studentenrat der Hochschule Zittau/Görlitz mit einem Riesen und einem Fisch belobigte: Für „Siostry“, also „Schwestern“ ging der Pole Michał Hytroś ins Kloster und zeichnet in Ruhe den Alltag nach, ein kleiner Aufklärungsfilm, vor allem für deutsche wie tschechische Agnostiker, die sich in Zeiten der Postdemokratie Humanisten nennen müssen, um wahrgenommen zu werden.

Dass Kritiker immer andere Filme vorn sehen, ist normal. Der Eröffnungsfilm „Frau Stern“, eine witzige Hommage an die lebenslustige, grazile Berliner Jüdin Ahuva Sommerfeld, die kurz vorm Tod noch einmal trinkend wie kiffend aufblüht, berührt en passant drei virulente Probleme moderner Großstädter: zunehmende Kriminalität, zunehmende Intoleranz und vor allem – hier wunderbar mit einer Drei-Generationen-Frauengeschichte konterkariert und mit sympathischem Arzt und coolem Haschfriseur garniert – Alterseinsamkeit samt Pflegenotstand. Das Werk von Regisseur Anatol Schuster und Kameramann Adrian Campean ist noch nicht ganz rund und daher preisreif, geriet aber als Ode an die Nichtschauspielerin, die das Werk kurz vorm Ableben noch sehen konnte, durchaus berührend und darob lobend erwähnt und wird ab 29. August im urbanen Programmkino Freunde plus Anerkennung finden.

Auffällig in der Erzähl- als Kunstform: Die düstere Doku „Central Bus Station“ von Tomáš Elšík über das seltsame Eigenleben vom einst größten Busbahnhof der Welt in Tel Aviv – in Führung vom desillusionierten Yonatan, der von weiteren merkwürdigen Protagonisten lebt. Fürs schwarze Humorgemüt außerdem zuträglich: der tschechische Trickfilm „Blutige Märchen“ – grimmig reloaded by Tereza Kovandová aus Prag.

Ein Sonderlob für Sonderpreisträgerin Rena Dumont, die nach der Präsentation ihres Roadmovies „Honza im Pech“ im Nebenprogramm Regionalia am Donnerstag in Löbau nach München zurückfuhr, um dann nach Juryanruf per Flieger rechtzeitig zur Preisverleihung einzutreffen. Der 30-Minüter erzählt die Geschichte vom mürrischen Hans Himmelreich, der als Vertriebenenkel sein Glück in CSSR-Provinz findet. Dafür gab der Filmverband Sachsen seinen Spezialpreis für Völkerverständigung, ebenso mit Tausender dotiert.

Neben einigen weiteren Preisträgern, die es nicht wie Dumont innerhalb eines Tages gen Neiße schafften, ward auch der polnische Ehrenpreisträger Jan Nowicki nur per Videobotschaft aus dem Krankenhaus zugeschalten, Iris Gusner, die 1987 in Ostberlin mit ihm in der Hauptrolle sowie Cornelia Schmaus und ihrer Tochter Amina den Defa-Endzeitfilm „Ich liebe Dich – April!, April!“, als einer der drei Werke in der Retrospektive gezeigt, drehte, hielt die Laudatio als Ode auf diesen Welthutbürger und den DDR-Abgesang.

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Die grüne Landtagsabgeordnete Franziska Schubert gönnte sich als Görlitzer Prominente die Preisverleihung auf der andere Neißeseite.
Foto: NFF / Matthias Wehnert

Erstaunliche Auftritte

Sensationell ergreifend der Auftritt vom Oberpfälzer Ex-Landrat Hans Schuierer, der zu dem seinem Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage „Wackersdorf“ persönlich anreiste. Der aufrechte Sozi, der seinen ungleichen Kampf gegen Franz Josef Strauß einst wohl nur dank Tschernobyl-Wolke gewinnen konnte, wird im Zwei-Stunden-Epos nun endlich gewürdigt, während die bayrische Staatsregierung bis heute bei seinem Namen aufstöhnt und sein Gesetz, die „Lex Schuierer“, noch immer in Betrieb ist. Er stellte klar: Es war alles nicht nur größer, sondern auch brutaler als es Film und die massenhaft Verletzten und drei Tote aussagen: 43 Wasserwerfer ließ der bayrische Ministerpräsident damals mit CS-Gas (laut Genfer Konvention in Kriegen verboten) füllen, um die Protestanten besprühend zu vertreiben.

Erstaunlich auch die An- resp. Abwesensheitsliste bei den beiden offiziellen Rahmenakten: Während es die sächsische SPD-Kunstministerin trotz angekündigten ministeriellen Ruhestandes nach der kommenden Landtagswahl nicht nehmen ließ, ihren verdoppelten Preis selbst zu überreichen – fehlten (wie zur Eröffnung in Zittau) alle drei Schirmherren, also der sächsische Landesvater (der seltsamer Weise bei der Görlitzer Pressekonferenz zwei Wochen vorher an einem Freitagvormittag in der Ferienwoche im Camillokino auftauchte, welches nun vor Schreck und ohne die liebe- wie kulturvolle Camillokneipe, deren Wirtin man ohne Nachfolgelösung den Raum kündigte, nun gleich ein halbes Jahr zur vereinsinternen „Neufindung“ schließt) als auch der Liberecer Kreishauptmann, der den Drehbuchpreis stiftete und der Zgorzelecer Bürgermeister (Alibi: Urlaub) – samt seiner beiden Kollegen aus der einstigen Westvorstadt. Dafür am Start: Franziska Schubert, die als Finanz- und Bienenexpertin für Bündnis 90 in Sachsens Landtag sitzt und für die Wahlinitiative Motor Görlitz Ende Mai mutig in den Görlitzer Oberbürgerinnenmeisterwahlkampf zieht.

Wichtig zu wissen: Aufgrund seiner Gründung und des Ansatzes gilt das NFF als europaweit einmalig, denn es entstand als Initiative von drei Filmklubs. Das Epizentrum ist dabei traditionell das Kunstbauerkino Großhennersdorf, welches in Kooperation mit dem Kino Varšava im tschechischen Liberec und dem polnischen DKF Klaps in Jelenia Góra 2004 die erste Edition stemmte. Zwei Wünsche für die kommende Edition bleiben: eine kompaktere Eröffnung mit weniger Reden und mehr Film und eine Preisverleihung jenseits von Görlitz – vielleicht sogar mutig im Gruftie-Ambiente der sanft wiedererweckten Zittauer Schauburg, von wo aus eine shuttlige Korrespondenz- respektive Transfairparty mit dem  kunstbäuerlichen Urbäckerkinotempel und dessen unikaten Gartenflair in Großhennersdorf, an dem das Festivalleitungstrio mit Ola Staszel, Antje Schadow und Andreas Friedrich erstmals aufatmen, möglich wäre. Diese 17. Edition wartet vom 26. bis 31. Mai 2020, dann wieder in der Pfingstwoche nach der Palmölung zu Cannes. Zuvor jedoch wird sicher (un)heimlich der 15. Geburtstag gefeiert, denn das erste Neißefilm-Festival begann am 15. Juno 2004.

Andreas Herrmann

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