Neue Sehnsucht nach Muddi

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Das 18. Neißefilmfestival im Dreiländereck legt vom 16. bis 19. September den Fokus auf Europas Muttermal

Navid Kermani liest am 17. September beim 18. Neißefilmfest auf dem triöstlichen Diwan im Zittauer Hauptmann-Theater.
Foto: PR / Julian Baumann

Das wichtigste zuerst: Navid Kermani kommt. Könnten Deutsche ihren Lieblingsmuslim wählen: Er wäre mit großer Sicherheit ganz vorn. Sicher auch bei der Wahl unter allen akuten Literaten, die auf Deutsch publizieren – und in persönlicher Beliebtheit weit vor allen Politikern, was vor allem an seiner Bildung, Toleranz und Weisheit liegt. Ein Mann also, der als Stammgast auf Goethes Diwan gehört.

Er liest am 17. September  im Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater – und wird dabei wohl nicht nur den nahen wie mittleren, sondern auch den allernächsten Osten betrachten, denn der Festivalfokus liegt auf Mutter Europa (im NFF-Duktus: „Mother Europe“) – also auf plötzlich wieder virulenten Grenzen und deren Folgekosten wie Wohlstands-, Währungs- und Sprachdifferenzen. Wollen wir hoffen, dass die Dreieckländler in der Mitte Europs, gewöhnlich zentral von allen Seiten vergessen, nicht den gemeinen Brüsseler Fehler machen und Europas Muttermal auf den EU- oder Schengen-Raum arg einzugrenzen.

Mittelpunkt in trinationaler Randlage

Der Mittelpunkt Europas liegt an jenem Wochenende aber zweifelsohne in jenem Kunstbauerkino Großhennersdorf, dem kleinsten Duoplex der Republik, wo nun nach der 17. Wild-Ost-Edition anno 2020 vom 16. bis 19. September die 18. Auflage vom Neißefilmfestival als zweite im September eskaliert, weil (wie im Vorjahr) im Mai irgend etwas anderes dazwischenkam.

So steht wie damals steht das Ganze unter dem Vorbehalt, dass es die Medizinerfrauen und -männer des Kreises und des Landes hygienisch für zulässig erachten. Wie im Vorjahr wird es um zwei Tage kastriert, also startet man wieder am Donnerstag (statt Dienstag). Und zwar mit dem neuen Film von Christian Schwochow namens „Je suis Karl“, der als Startfilm parallel in drei Kinos läuft: neben Großhennersdorf auch im Kronenkino Zittau und der Kulturfabrik Meda Mittelherwigsdorf.

Auch die um zwei Tage verkürzte Festivalvariante wird wie gewohnt mit Wettbewerben für Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilm und einem Rahmenprogramm mit Ausstellungen, Gesprächen und Konzerten aufwarten, an nun vier Festivaltagen erwarten das Publikum trotzdem rund 60 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme in drei Wettbewerben, wobei die Lausitzer Neiße – von ihrem Born im Isergebirge herabplätschernd ja nicht nur Liberec, Zittau und Görlitz/Zgorzelec als Grenzfluss verbindet und den Namen sowie den jedes Jahr neu originären Fisch (als Siegerpokal) stiftet. Dabei liegen Bogatynia, Sienawka und Varnsdorf von den deutschen Hotspots wie Großhennersdorf, Mittelherwigsdorf und Zittau im Kerngebiet wirklich gleich um die Ecke und liefern nicht nur Benzin und Zigaretten, sondern auch systemrelevantes Humankapital, wie man jüngst doppelt bemerkte.

 Kreuzender Grenzüberschritt

Zwei besondere Merkmale tragen dieser europäisch einmaligen Dreiecksbeziehung Rechnung: Der Hauptwettbewerb um den besten Spielfilm wird unter je drei frischen Werken aus Tschechien, Polen und der Bundesrepublik gekürt und am Ende mit zehn Riesen und dem „Drei-Länder-Filmpreis“ der sächsischen Kunstministerin geehrt. Das geschieht am Samstag (ab 17 Uhr), wieder im Filmtheater Ebersbach, wo auch die neun anderen Preise vergeben werden – diesmal hoffentlich mit mehr persönlicher Anteilnahme als in den Vorjahren, denn die Ausreden werden rarer. Die traditionelle Festivalparty ist dann wieder in der Filmfestkeimzelle GroHeDo. Ab 22 Uhr legen die BerlinSchnotterBoys auf – ein „grenzüberschreitendes Crossover für eine tolle Nacht“ ist versprochen.

Die begleitende Fotoausstellung ist in ihrer Art die vierte und nennt sich als Reihe „Filmożart“. Sie wird Porträts und Landschaften, Dokumentar- und Produktfotografie von über 20 Fotografen zeigen – in „Zielone Wiosła” in Sieniawka (ab 11. September, präsentiert von der Fotogruppe BG Flash aus Bogatynia) sowie im Kulturcafé „Alte Bäckerei“ in Großhennersdorf (ab 3. September als fortgesetzte Serie von Fotograf Paweł Dusza aus Sieniawka auserwählt).

Cineastische Festivalausflüge gibt es unter anderem gen Camillo Görlitz, ins Steinhaus Bautzen, aber auch mit „Grenzland” aus der Reihe Regionalia gen „Zielone Wiosła“ in Sieniawka oder mit „Notes of Berlin” aus der Reihe „Panorama – Fenster – Blues“ gen neuer KulturWerkstatt B26 in Löbau (jeweils zeitgleich mit Kermani). Besonders erwähnenswert: Im riesigen Halbrundkino namens „Centrum Panorama“ in Varnsdorf  wartet beim 70-Millimeter-Weekend in sensationell monumentaler Optik unter anderem Igor Talankins „Tschaikowski“ (17.09., 16 Uhr) oder „Battle of the Bulge“ (17.09., 20 Uhr) in Regie von Ken Annakinam,  aber auch Stanley Kubricks 197-Minüter namens „Spartacus“ (18.09., 14.30 Uhr) sowie „My Fair Lady” (18.09., 20 Uhr) – und zwar auf Englisch mit deutscher Übersetzung. Auch einen echten Seidl gibt es zum Fokusthema Muddi: „Import/Export“ hatte Premiere in Cannes anno 2007 – nun läuft es direkt bei den Kunstbauern, parallel  zum Partynachtbeginn mit den Berliner Schnotterern.

 

Andreas Herrmann

Netzinfos: www.neissefilmfestival.net

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