Auswirkungen der Digitalisierung auf die kindliche Hirnentwicklung: Erkenntnisse aus der Hirnforschung
Der Verein „Lebendiges Lernen Lausitz e.V.“ setzt sich zum Ziel dynamische und lebendige Lernumgebungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schaffen. Er orientiert sich an der Idee, das Lernen in Beziehung, in Gemeinschaft stattfindet. Nach dem Motto voneinander und miteinander lernen. Nun leben wir in einem digitalen Zeitalter. Die Digitalisierung hält Einzug in alle Lebensbereiche, ob privat oder beruflich, auch unsere Kinder werden damit konfrontiert und in Schulen werden digitale Medien integraler Lernbestandteil. Doch welchen Einfluss haben digitale Medien im Kindesalter auf die Gesundheit, Gehirnentwicklung, zwischenmenschliche, soziale Beziehungen? Was sind Chancen und Risiken? Der Verein möchte darauf aufmerksam machen, aufklären und diskutieren. Daher lädt er zu einem Veranstaltungsabend „Kinder im Umgang mit der digitalen Welt“ Neurobiologin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt ein, die den Bereich Neuroanatomie, Humanbiologie an der Fakultät Biologie der Universität Bielefeld leitete und systemische Hirnforschung betrieb über Medienwirksamkeit auf das Gehirn. Sie wird den Vortrag „Verbaut die digitale Revolution uns und unseren Kindern die Zukunft? – Erkenntnisse aus der Hirnforschung der letzten 40 Jahre“ halten. Danach folgt eine Diskussionsrunde, um gemeinsam über Schutzräume und Lösungsansätze für einen achtsamen, sinnvollen Umgang der Kinder mit digitalen Medien aufzuzeigen. HERMANN sprach mit Gertraud Teuchert-Noodt.
Was ist bei der frühkindlichen Entwicklung des Gehirns besonders wichtig?
Die Reifung des Gehirns schreitet in der Kindheit von der Bewegung, den Sinnesfunktionen zu der kognitiven Funktion ganz langsam fort. Erst krabbelt’s, dann klettert’s, dann läuft es, dann kommt die Feinmotorik und die sensomotorische Reifung über den Gleichgewichtssinn. Dabei spielen das Kleinhirn und die motorischen Rindenfelder im Großhirn eine zentrale Rolle. Alles wird immer zeitlebens über diese Region geleitet und alles, was die Kognition erreicht, was sie fördert, bewirkt die spätere kognitive Reifung. Deshalb ist es elementar, die ganzheitliche Bewegung zu fördern, die sensomotorischen Fähigkeiten frühkindlich gut anzulegen, auszubauen und zu stimulieren. Stirnhirn und limbisches System steuern die höchsten Hirnfunktionen wie Willens-, Gedächtnisbildung, Denk- und Sozialverhalten. Diese werden über motorische Aktivitäten erst zum Leben erweckt. Das Spielverhalten des Kindes ist der Nährboden für sprechen, denken, schreiben lernen. Das Fundament muss gut gebaut werden, das Haus braucht einen soliden Grundbau, um standfest zu bleiben und nicht von jedem Beben erschüttert zu werden. Nur dann kann darauf aufgebaut werden.
Welchen Effekt hat in diesem Zusammenhang die Nutzung digitaler Geräte und Medien auf das Gehirn und die Raum-Zeit-Verrechnung?
Kinder sollten mit Händen und Füßen die reale Welt im dreidimensionalen Raum spielerisch entdecken und sie mit allen Sinnen begreifen, anstatt nur mit dem Finger über das Tablet zu wischen und auf zweidimensionale Bilder zu starren. Wird das Gehirn nur eindimensional angelegt, werden die raumdimensional angelegten Hirn-Nervenzellen nur von einer Seite bedient. Das ist wie mit Bäumen, deren Äste, wie Nervenzellen, räumlich angelegt sind. Ein Baum, der nur einseitig vom Sonnenlicht angestrahlt wird, wächst deshalb krumm dem Licht entgegen und bildet nur einseitig Äste aus. Die Raum-Verästelungen der Nervenzellen müssen, wie bei einem Baum, von allen Seiten bedient werden, damit sie sich ausprägen können. Das leisten die Sinnesorgane: sehen, hören, riechen, tasten, schmecken. Nur ganzheitlich raumdimensional können die Nervenzellen mit synaptischen Kontakten ausgebildet werden und optimal funktionieren. Werden sie nur linear bedient, dann bleiben sie kümmerlich und können sich nicht entfalten. Das Stirnhirn kann deswegen nicht ausreifen und versagt seine Funktion, wie z.B. unsere kleinen Ängste zu bewältigen, Informationen zu speichern, Denkprozesse anzuregen, Konzentration. Das ist irreversibel, wenn die Reifung vollendet ist, lässt sich das nicht mehr korrigieren. Ein krummer Baumstamm ist auch nicht gerade zu biegen und seine einseitige halbe Krone wird nicht mehr rund.
Was sind die größten Gefahren der digitalen Mediennutzung?
Die hohe Geschwindigkeit und Beschleunigung u.a. der Bildabfolgen sind ein großes Problem, denn das zieht magisch an und macht abhängig. Digitale Sucht unterscheidet sich nicht von Drogenabhängigkeit, die Wirkmechanismen in den Hirnarrealen sind dieselben. Reizüberflutung brennt sich als Sucht ins Gehirn ein. Folgen sind Angststörungen, Aggression, Depression, Hyperaktivität, Schlaf-, Konzentrationsstörungen, Suchtverhalten, Abhängikeit. Kinder und Jugendliche sind im sozialen Netz, vergleichen sich mit unrealistischen Körperbildern, was zu Essstörung und Depression führen kann, sie werden frühzeitig sexualisiert und mit Gewalt konfrontiert, was Eltern verzweifeln lässt, weil man sie davor kaum schützen kann. Spielen Kinder mit Handy oder Tablet, statt sich mit Freunden zu treffen, wird der natürliche Bewegungsdrang gehemmt. Es kommt zu sozialem Rückzug, Aufmerksamkeitsdefizit, verzögerte motorische, sprachliche Entwicklung, Mangel an Kommunikation und Sozialkompetenz, sie finden keine Lösungsstrategien, um Konflikte eigenständig zu bewältigen. Sie können ihre innere Freiheit und geistige Intelligenz nicht entfalten.
Wie können Eltern dem am besten begegnen?
E ltern sind Vorbilder für ihre Kinder, da diese über das Nachahmen lernen. Deshalb müssen Eltern ihre Abhängikeit zur Technik selbst überwinden, Digitalgeräte beiseite legen, dem Kind einen gesunden Medienumgang vorleben. Um sich vom Stress des Arbeitstages zu erholen, sollten sie sich gemeinsam mit dem Kind geistig betätigen, Geschichten lesen, Rätsel raten, Karten spielen. Anstatt das Kind für eigene Pausen vor dem Tablet zu parken, ihm lieber ein kreatives Hobby ermöglichen wie Tanz, Sport, Musik, Chor, Instrument oder Theater spielen. Am besten mit dem Kind gemeinsame Erfahrungen sammeln, raus in die Natur spazieren, wandern gehen, Ball spielen. Das Kind, Kind sein lassen, es ganz viel spielen und erleben lassen. Diese Kompetenzen müssen analog, vor der Medienkompetenz erlernt werden, um später vernünftig damit umgehen zu können. Dem Kind helfen, seine individuelle Leidenschaft und Stärke zu wecken, sie zu entwickeln und auszubauen. Die geistige Entwicklung für das Kind zulassen, sie gezielt aufbauen mit Kommunikation und viel Liebe fördern. Die Bindung zwischen Eltern und Kind ist das intensivste Band. Genetik spielt eine geringe Rolle, die Umwelt macht dreiviertel der Intelligenz-Reifung aus! Jeder hat das Zeug, Hochschullehrer zu werden. Dem Kind ist bereits alles gegeben, man muss nur zulassen, dass sich sein Potenzial entfalten kann.
Interview: Tracy Neumann
TERMIN:
Vortrag Neurobiologin Prof. Dr. Teuchert-Noodt
am 1. März, 18 Uhr, Vereinsheim SV Wacker 09,
Zahsower Str. 12, 03046 Cottbus
Eintritt frei, Spende möglich, Anmeldung erfordert
Webseite:
www.lebendiges-lernen-lausitz.jimdofree.com
E-Mail: Lebendiges.lernen.lausitz@gmail.com
Videoempfehlung: „Aufwach(s)en im Umgang mit digitalen Medien“ bei diagnose:funk
www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=1777
Bildunterschrift: Neurobiologin Prof. Dr. G. Teuchert-Noodt. Foto: G. Teuchert-Noodt