Theatergeflüster Mai 2019

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Ich will Enthüllungen machen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Jetzt, da die Gemeinde aufblüht, habe ich doch eine große Entdeckung gemacht. Die große Entdeckung, dass unsere sämtlichen geistigen Lebensquellen vergiftet sind, dass unsere ganze bürgerliche Gesellschaft auf dem verpesteten Boden der Lüge ruht. Allerorts heißt es, im Großen und Ganzen herrsche ein schöner Geist der

Verträglichkeit in unserer Stadt; ein Bürgersinn, wie er sein soll. Dabei saugt das ganze aufblühende Leben unseres Gemeinwesens seine Nahrung aus einer Lüge. Darüber zu sprechen aber, soll mir nun verboten werden. Denn auch wenn ich das Recht auf meiner Seite habe, haben meine Vorgesetzten die Macht, und mir als Angestelltem ist es untersagt, eine andere Meinung zu haben als sie.
Freilich befindet sich die Gemeinde im Aufschwung, der Wohlstand wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Gäste des Ortes verschaffen ihm einen Namen. Was aber, wenn dieser Aufschwung auf einer Lüge fußt? Ich kenne die Wahrheit und soll sie, politischen und wirtschaftlichen Interessen folgend, nicht laut aussprechen?

Ist der ein Freund des Volkes, der die Wahrheit benennt, auch wenn sie weh tut? Oder der, der sie verschweigt zum vermeintlichen Wohle der Allgemeinheit?

 

Ich lade Sie ein, teilzuhaben an der großen Bürgerversammlung, die über meinen Stand in der Gesellschaft befinden wird. Ich werde streiten für die Wahrheit – und wenn ich darüber zum Feind des Volkes werde. Wir werden ja sehen, ob eine kompakte Mehrheit so gewissenlos sein kann, die Zukunft der Stadt auf einen Schlammboden von Lüge und Betrug zu gründen.

 

Ihr Dr. Thomas Stockmann

In der Regie von Jo Fabian hat „Ein Volksfeind“ nach Henrik Ibsen am 25. Mai 2019 im Großen Haus Premiere.

 

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