Menschenkinder im Fluss der Zeit

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Erfolgreiche Ballettcompagnie des Staatstheaters Cottbus bereitet neuen  Höhepunkt vor

Die alte Spielzeit ist noch nicht zu Ende, da proben unermüdliche Balletttänzerinnen und -tänzer schon für die erste Premiere  der neuen. Die heißt „Menschenskinder” und umfasst drei Choreografien von Nils Christe („Cantus”) und Birgit Scherzer (‟Keith” und ‟Anywhereme”). Der eine, Holländer, ist dem Cottbuser Ballettpublikum bekannt und wird von der Compagnie geschätzt, die andere ist eine renommierte Choreografin mit Busch-Hochschul-  und Komische-Oper-Erfahrungen. Der Themenkreis um Männer, Frauen und Paare eint alle drei Werke.

Den Titel „Menschenskinder” hat sich Ballettchef Dirk Neumann ausgedacht. „Menschenskinder” – das könnte wie Fluch oder Tadel klingen. Er dachte aber eher an den Ausruf: „Menschenskinder, das habt ihr toll gemacht!” und meint einzelne Leistungen genauso wie die gesamte Entwicklung der Compagnie in den vergangenen Jahren. Sie wurde „Im Fluss der Zeit” (so hieß eine Produktion aus der Spielzeit 2015/16) so richtig mitgerissen in Höhen, vergleichbar dem Sprung von Stefan Kulhawec auf unserem Foto. Dirk Neumann: „Kreativität und Innovation sind die Stärken dieser Compagnie. Deshalb regieren Mut zum Risiko, unbedingter Willen und Experimentierfreude. Für dieses Team gibt es keine Barrieren.” Das liegt auch an dessen Chef, der immer wieder erstaunliche Inszenierungsmannschaften verpflichtet. Markantes Beispiel: Für „Peter Pan” kamen Manuel Joel Mandon (Franzose/Choreograf), Juan Leon (Chilene/Bühne) und Adriana Mortelliti (Italienerin/Kostüme). Ein Nochmehr im Fluss der Zeit ist kaum vorstellbar.

Was dann immer so wunderbar über die Bühne geht, ist in harter Arbeit entstanden.  Aus Gesprächen mit den Künstlern, die ich in diesen Tagen führte, zitiere ich einige Gedanken, die ein wenig Aufschluss über ihr wunderbares, engagiertes Wirken geben. Auf die Frage, was ihren Alltag ausmache, sagt Greta Dato: „Tanzen, tanzen, tanzen. Menschen vergessen zu oft, wie fantastisch eigentlich die Welt ist. Wir bringen das auf die Bühne. Kein Tag ohne Tanz.” Stefan Kulhawec: „Ein Tag, an dem dir abends die Tänzerbeine nicht wie Marmelade vorkommen, war ein unnützer Tag.” Diesen Eifer, diese schöne Härte gegen sich selbst, haben ihm seine fleißigen, aufopferungsvollen Eltern mitgegeben,  Tischler und Krankenschwester in Australien, die wohl keine Cottbuser Ballettproduktion versäumen und jedes Jahr über die Kontinente jetten. Niko Ilias König glaubt, dass auch die von der Kritik immer wieder gelobten Leistungen im Teamgeist ihre Wurzeln haben. Für Venira Welijan, aus dem traditionsreichen Turkvolk der Uiguren im Nordwesten Chinas stammend, fühlt sich von Musik inspiriert und in ihrem Temperament angeregt, die wie die in ihrer Heimat ist: schnell und lyrisch. Tanzen sei nicht nur eine Sache der Beine. Es brauche Herz und Seele. René Klötzer, bald wieder als Peter Pan auf der Bühne, liebt die Herausforderung, mit der Schwerkraft der Erde zu spielen: „Die Choreografie ,Cantus‘ bietet mir dafür viel in drei Dimensionen – auf den Boden fallen, abrollen, aufrichten, drehen, steigen, fliegen. Ich könnte sagen, eine Fortsetzung von Peter Pan, nur anders, weil diesmal keine Handlung ist.” Denise Ruddock: „Es muss auf der Bühne etwas passieren, es muss, was du tust, etwas auslösen. Wenn du so von der Bühne gehst, wie du raufgekommen bist, war was falsch. Auf der Bühne musst du ein Stück von dir selbst abgeben.”

Abgegeben haben ein ganzes Bild von sich selbst und ihrer Sicht auf die Welt fünf Tänzerinnen und Tänzer in der alljährlichen Ballettgala zum Welttag des Tanzes. Dazu zählten Jason Sabrou und Inmaculada Marin Lopez. Jason, der Tänzer geworden ist, um schließlich  Choreograf  zu werden, sagt: „Meine Bilder sind Botschaften narrativer Art, getanzte Geschichten, die etwas transportieren, oder musikalische Eindrücke und Ausdrücke.” Inmaculada nannte ihre Choreografie „Ad astra” (Zu den Sternen). Im Gespräch sagte sie, der Mensch müsse nicht zu den Sternen fliegen, er müsse diese in sich selbst finden. Die Spanierin hat zu ihrer Choreografie ein Gedicht geschrieben, in dem es u.a. heißt: „Sei einfach menschlich, beiseite lass die Zwänge, die Gewalt,. . ., den Terror. . .schmecke die Zeit, erblicke das Leben, tanze dein Lachen. . .” Menschenskinder, wie beeindruckend die Balletttänzer immer wieder (siehe auch „Picasso”, „Frida Kahlo”, „Das Bildnis des Dorian Gray”) andere Künste einbeziehen!
Der Ballettchef war beeindruckt: „Mich hat’s bald umgewedelt. Es war ja nicht nur die Choreografie, auch die Musik, Kostümauswahl, Beleuchtung – alles hat irre durchgängig geklappt. Klasse.”

Die Menschenkinder sind also gut gerüstet für „Menschenskinder”. Sicher gibt es auch einen Ansporn, der durch das neue Ballettstudio entsteht, das die Arbeits-, Trainings- und Probenbedingungen immens verbessert. Nils Christe freut sich auf diese Arbeit, bei der er in seiner charmanten Assistentin und Lebengefährtin Annegien Sneep, die seine Choreografien aus dem  Effeff kennt, große Unterstützung hat. Zwei seiner Grundsätze: „Meine Sprache ist die Körpersprache. Man muss die Musik sehen können.” Greta Dato, Jason Sabrou und Niko Ilias König verlassen die Compagnie zum Ende der Spielzeit. Neue Tänzerin: Andrea Masotti; neue Tänzer: Andrea Simeone und Mikhail Champs.

Klaus Wilke
Titelfoto: Bei den Probenarbeiten zu „Cantus” von Nils Christe. © Marlies Kross

 

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