Arno Schirokauer (1899-1954) – eine Cottbuser Legende Teil 3

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 Über den (fast) vergessenden Cottbuser Schriftsteller, Radio-Pionier, Kritiker, Germanisten, KZ-Überlebenden, Draufgänger, Emigranten, Genius…

Berlin, 29. Oktober 1923, die Geburtsstunde des deutschen Rundfunks: „Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin, im Voxhaus. Auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren, wir machen ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunk-dienst, mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig!“

Arno Schirokauer 1927 Foto: unbekannt

Arno Schirokauers Freund, der Autor und letzte Chefredakteur des „Simplicissimus“ Franz Schoenberner schrieb über die Anfänge des Rundfunks: „Das Radio schien zu jener Zeit, nicht viel mehr zu sein als ein neues Spielzeug für technisch interessierte Halbwüchsige aller Altersstufen. Denn ein wirklich erwachsener, kultivierter Mensch musste es als lächerliche Zumutung betrachten, dass er – anstatt ein gutes Buch zu lesen, ein Konzert zu hören oder ein anregendes Gespräch zu führen – lästige Kopfhörer umhängen und sich mit einer primitiven, unzuverlässigen Maschinerie herumärgern sollte, nur um schließlich – nach vielen vergeblichen Versuchen – einige mehr oder minder artikulierte Geräusche zu vernehmen, manchmal eine Art von Musik, ein andermal eine menschliche Stimme, die klang, als käme sie aus dem Grunde einer rostigen Gießkanne…“ (aus: „Bekenntnisse eines europäischen Intellektuellen“)

Rundfunkzeitschrift 1931 Foto: Deutsches Rundfunkarchiv

Aller Anfang ist wunderlich, wir Heutigen erlebten das vom Handy („Knochen“) oder Internet (56k-Modem: ssskrrsss…Bin ich schon drin?), doch die Erfolgsgeschichte nimmt seinen Lauf. Überall im Lande gehen Sendestationen in Betrieb, die Technik entwickelt sich rasant, das Röhrengerät wird Standardempfänger, die Lautsprecher verdrängen die Kopfhörer, eine ganz neue kulturelle und informative Spielwiese entsteht und schon bald haben Millionen deutscher Haushalte ein Radio daheim (bis 1933 mehr als 5 Millionen Gebührenzahler).

Radio-Silvesterrevue von Arno Schirokauer Foto:Daniel Ratthei

Arno Schirokauer erlebt seine besten Jahre. Als freischaffender Autor macht er sich einen Namen als Essayist und Kritiker (Literatur, Theater, Musik). Er schreibt für verschiedene Gazetten und Magazine, aber auch Hörbeiträge fürs Radio. Monatlich treffen Pakete mit Schallplatten der größten Plattenfirmen ein, die auf seine Rezension warten. Seine Biografie über die Ikone der Arbeiterbewegung Ferdinand Lassalle („Lassalle. Die Macht der Illusion. Die Illusion der Macht.“ 1928), wird zum internationalen Achtungserfolg. Die Tantiemen sprudeln Geld in die Haushaltskasse. Die jungen Eheleute Arno & Erna Schirokauer mieten sich ein Häuschen im Leipziger Vorort Gautzsch (später in Großdeuben). Einer der Nachbarn ist der Leipziger Schauspieldirektor Wilhelm Berthold. Man kennt sich, man ist gefragt, man ist wer. Das Glück erreicht mit der Geburt von Sohn Conrad im April 1929 seine lebendige Wirklichkeit.

Sprecherraum um 1930, MIRAG Leipzig Foto: unbekannt

Arno nimmt 1929 eine Festanstellung bei der Mitteldeutschen Rundfunk AG (MIRAG) an, dem Vorläufer des MDR. Medium Radio und Arno Schirokauer – das passt! Der Mann mit dem absoluten Gehör, der im 1. Weltkrieg ein Auge verlor, der klassische Musik und gute Bücher liebt, widmet sich vor allem einer völlig neuen künstlerischen Gattung: dem Hörspiel.

Die Aufnahmetechnik der 20er-Jahre reichte noch nicht aus, um längere Darbietungen zu konservieren und beliebig wiederzugeben. Hörspiele wurden daher live (!) gesendet. Wenn um 20 Uhr Arnos Hörspiel „Der Kampf um den Himmel“ als Programmpunkt gesetzt war, dann standen auch Punkt 8 mehrere Sprecher und Musiker im Aufnahmeraum um die Mikrofone und performten den Text. Natürlich wurde das Ganze vorher akribisch geprobt. Eine amüsante Anekdote ist, dass die Akteure anfänglich gar Kostüme trugen – wegen der Einfühlsamkeit in die Rolle. Jede Rundfunkanstalt baute sich im Laufe der Jahre sein eigenes Orchester und Sprecher-Ensemble auf. Hörspiele wurden, wie im Theater, vom jeweiligen Radiosender eigenständig inszeniert.   

Aus: Eugen Kurt Fischer „Das Hörspiel“, 1964 Foto: Daniel Ratthei

Die Hörspiele von Arno Schirokauer tragen Titel wie: „Ozeanflug“(1928), „Magnet Pol“(1930) oder „Gespräch mit einem Roboter über die Entbehrlichkeit der Seele“(1931). Einige Stücke wurden von allen deutschsprachigen Sendern im In- und Ausland ausgestrahlt, als Printausgabe gedruckt oder in andere Sprachen übersetzt. In einer Liste der wichtigsten Hörspiele der ersten Radio-Dekade (1923-33) taucht sein Name gleich zweimal auf. Seine Themen behandeln den Zusammenprall von Mensch und Technik (oder Natur). Der Mensch – ausgestattet mit Wille und Psyche – im nackten Überlebenskampf um seine Bedeutung und bloße Existenz. Auch seine Frau Erna arbeitet beim Radio Leipzig, vor allem als Autorin und Sprecherin für den Kinderfunk.

Arno Schirokauer will das Wesen des Hörspiels tiefer ergründen. Es „funzt“ nicht. Sein Grundproblem besteht darin, dass die Sender versuchen das Medium Theater aufs Radio zu übertragen. „Die Hörbühne ist nicht theatralisch, sondern episch! Der Unterschied zwischen einem Theaterbesucher und einem Abhörer ist ja der, (…) dass der Rundfunkhörer als Einzelner Störungen aller Art durch seine nicht hörende Umgebung ausgesetzt ist, aus der Sendung also herausgerissen werden kann. Jede literarische Darbietung also, die nach Art des dramatischen Spiels eine Folge beziehungsvoller Szenen, von denen jede neue alle vorhergehenden voraussetzt, enthält, ist für den allergrößten Teil der Rundfunkhörer gar nicht zu konsumieren. Die geringste Störung des Empfangs, die geringste Unaufmerksamkeit reißt sie aus dem Fluss des Geschehens und verhindert verständnisvolle Teilnahme an den Schicksalen der tragischen Personen.“ (Aus: „Die Theorie des Hörspiels“)

Aquarell „Arno Schirokauer, 1953“ von Dr. Ernst Bodenheimer Foto: Privatarchiv Goodell

Schirokauer schreibt leidenschaftliche Aufsätze über das Thema. Die Lösung sieht er im epischen „Lehrstück“ à la Bertolt Brecht. Nicht Gefühle sollen die Triebfeder der Handlung sein, sondern Argumente. „…alle Szenen stehen wie Planeten um das Zentrum: Thema. Sie sind sogar austauschbar. Die Szenen sind vollkommen abgeschlossen gegeneinander. Der Hörer kann das Abhören eines solchen Spiels in jedem Augenblick beginnen und in jedem Augenblick abbrechen.“ Interessant ist, dass die heutigen Radioanstalten die Produktion von Hörspielen stetig herunterfahren und ein Allheilmittel gefunden haben: den Podcast. Liest man sich Schirokauers Beweisführung gut durch, sieht man diese Zukunft bereits aufblitzen. Interessant ist außerdem, dass unsere Theater während des Corona-Lockdowns mit jenem Phänomen zu kämpfen hatten: Die Übertragung des Mediums Theater auf den Stream „funzte“ nicht.

Schirokauer eckt an. Er kuscht nicht. Ehefrau Erna schrieb: Arno hatte montags eine Stunde Bücherkritik übers Radio. Da verriss er natürlich die immer zahlreicher erscheinende Literatur der Nationalsozialisten, deren „Ungeist“ er scharf unter die Lupe nahm.“ Sein Hörspiel „Straßenrondo“ (1932) enthält eine Szene, in welcher der Cottbuser ein sinnloses Kriegsverbrechen schildert. Die Ausstrahlung wird verschoben, Schirokauer weigert sich, den Text zu ändern. Erna weiter: „So war es kaum verwunderlich, dass er sich persönliche Feinde machte, und dass seine Kollegen ihn schon vor Weihnachten 1932 baten, bitte zu Hause zu bleiben, als man vor seiner Tür in der Mirag eine Bombe fand. Als dann Hitler an die Macht kam, war es vorbei mit seiner Stellung.“

Daniel Ratthei

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe die schweren Jahre der Flucht, seine Gefangenschaft in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald und der Neubeginn in den USA.

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