Über den (fast) vergessenden Cottbuser Schriftsteller, Radio-Pionier, Kritiker, Germanisten, KZ-Überlebenden, Draufgänger, Emigranten, Genius…
Mit der Machtübernahme der Nazis beginnen für die Schirokauers schwere, wechselhafte Jahre. 1933 verliert Arno seine Stellung beim Radio Leipzig. Das Publizieren kleinerer Artikel ist nur noch bei befreundeten Verlegern unter Pseudonym möglich und keine Konstante. Von heute auf morgen wird dem emporstrebenden, jüdischen Intellektuellen die Arbeitsgrundlage und das Publikum entzogen. Ironischerweise wird ihm von den Nazis 1934 das „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ verliehen. Ein Umstand, der den ehemaligen Piloten mit einem trügerischen Optimismus versieht. Der befreundete Schriftstellerkollege Heinrich Wiegand gibt den Schirokauers den Tipp nach Italien auszureisen. Die Toskana, und vor allem die Metropole Florenz ist einer der europäischen Hotspots für jüdische Exilanten.
Arno, Ehefrau Erna und Sohn Conrad wohnen zunächst in Lerici, einem Badeort am Ligurischen Meer, ab 1935 dann in Florenz. Geld verdient Schirokauer mit zeitlich befristeten Aufträgen bei Radio Bern in der Schweiz. Ansonsten zehren sie von den Ersparnissen und der Hoffnung, bald wieder zurückzukehren. Die Gerüchteküche brodelt unter den Exilanten. In einem Brief von 1936 schreibt Arno: „Der gute Onkel Singer hat mir eben gestern express einen Ausspruch von Thomas Mann mitgeteilt: „Ich sage nicht voraus, sondern ich weiß, dass Hitler Ende April zurücktreten wird!“ und da ich doch so oft gesehen habe, wie Narren am meisten Recht behalten, so glaube ich einem Dichterwort…“
Es ist weiterhin möglich, dass beide Eheleute aus unterschiedlichen, vor allem bürokratischen Gründen nach Reichsdeutschland reisen dürfen: Passverlängerung, Beerdigung des Vaters (von Erna, der wegen der politischen Situation Selbstmord beging), Auflösung des Haushalts, Kontofragen oder anderweitige Geldbeschaffungen. Es ist noch nicht die Zeit von Online-Banking und EU-Reisefreiheiten. Für bestimmte Dokumente muss man „heim ins Reich“. Auch eine Abtreibung in dieser Krisenzeit kommt für Erna nur in Deutschland infrage.
Arno, von dem Erna sagte, dass er „ein Mann von persönlichem Mut“ sei, begeht einen verhängnisvollen Fehler. Während der Verkündung der Nachrichten beim Studio Radio Bern, nennt er Hitler „So ein Schwein!“. Ein Kollege denunziert Schirokauer daraufhin. Als er im Winter 1937 wieder einmal nach Deutschland zur Passverlängerung muss, steht um 7 Uhr früh die Gestapo vor der Tür. Obwohl die Anklage fadenscheinig und dünn ist, landet der Cottbuser im Konzentrationslager Dachau. Ehefrau Erna, inzwischen erneut schwanger, bleibt allein mit dem achtjährigen Sohn und einer gehörigen Portion Angst in Italien zurück.
Spätestens jetzt erkennt Arno Schirokauer – der freiwillig fürs Vaterland in den 1. Weltkrieg zog, der die deutsche Sprache studierte und als Autor meisterlich in ihr wirkt, der, wie viele Akademiker seiner Generation mit Religion nichts am Hut hat, der an Weihnachten eher die Kirche besucht, als das er eine Synagoge regelmäßig von innen sieht – dass er für dieses Deutschland auf dem Papier „nur“ ein Jude ist, und seine Verdienste nichts mehr wert sind.
Vom Dirigenten und KZ-Überlebenden Herbert Zipper, der heimlich im Lager das „Dachau-Lied“ komponierte (Text: Jura Soyfer) erfahren wir folgendes: „Und vieles über die Bestialität berichtete mir dann Arno Schirokauer. Er war einer der bedeutendsten philosophischen Essayisten von Deutschland. Er leitete den Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig. Ich hatte mich bei ihm vorgestellt. Am zweiten Tag in Dachau sah ich ihn und er sah mich. Er hatte im Krieg ein Auge verloren und daher ein Glasauge. Aber er trug es nicht, weil es zu gefährlich war. Wenn einer hinhaut, kann das Glasauge ins Gehirn hinein. Er sagte: „Herbert, du bist aber spät!“ „Spät?“ „Na ich bin schon vier Monate hier.“ Und dann hat er mir genau geschildert, was sich da abspielt. Ich kann es ihnen nicht nacherzählen. Was man den Menschen angetan hat, das ist nicht zu schildern. Sie würden nicht erlauben, dass einem der wildesten Tiere anzutun. (…)
Da war ein großes, gusseisernes Tor. Und über dem Tor ist in großen Buchstaben gestanden: „Arbeit macht frei.“ An einem Tag sind wir vielleicht 13 mal durch dieses Tor. Wir haben draußen diese 50-Kilogramm-Säcke Zement aufgeladen und im Lager wieder ausgeladen. Jura und ich zogen den Wagen an derselben Stange, außen Jura, innen war ich, auf der anderen Seite der Deichsel der Arno Schirokauer. Wir haben sehr viel geblödelt. Es war an einem sehr heißen Tag im August. Irgendwann sagte Arno Schirokauer: „Jetzt ist genug, jetzt wird nicht mehr marschiert.“ Wir stellten den Wagen bei einer Baracke in den Schatten. Und wenn irgendwo in der Ferne ein SS-Mann zu sehen war, hat Arno Schirokauer ganz laut zu brüllen begonnen – in der typischen SS-Art-und-Weise. Niemand hat von uns Notiz genommen. Denn wenn laut gebrüllt wird, ist alles in Ordnung. Unglaublich: Wir sind in der größten Mittagshitze, zwischen 2 und 4, nur herumgestanden und haben nichts gemacht!“
Aus dem Buch „Dachau Song“ (von Paul Cummins): Die tägliche Arbeit war nicht nur trostlos und anstrengend, auch die Mahlzeiten waren ekelhaft. Die Abendmahlzeiten bestanden in der Regel aus mageren Portionen einer Matschsuppe. Oft schwammen Würmer oben auf der „Suppe“. Zu dieser Zeit gab es ein Sprichwort: Besser Würmer als gar kein Fleisch! Manchmal wurden die Abendmahlzeiten in Walfett gekocht. Das stank auch. Immer wenn Zipper die weißen Reste des Walschmalzes auf der „Suppe“ schwimmen sah, aß er einfach nicht. An einem besonders miesen Tag sagte Arno Schirokauer zu Zipper, dass es jetzt nicht mehr so schlimm sei wie in der Anfangszeit von Dachau, als einige Häftlinge gezwungen wurden, ihren eigenen Urin zu trinken und ihre eigenen Exkremente zu essen. Zipper starrte Schirokauer völlig ungläubig an, aber sein Freund nickte nur und sagte: „Das ist wahr“.
Zipper machte sich daran, das Dachau-Lied heimlich einem Violine spielenden Kapo und 2 Gitarristen beizubringen – alle drei waren ausgezeichnete Musiker. Der Unterricht fand ohne geschriebenen Text oder geschriebene Noten statt. Kurz nach dem Abendessen, bevor die Sirenen das Licht ausmachten, schlichen sich Zipper und die drei Musiker zurück in die Baracke, wo Arno Schirokauer Schmiere stand, und Zipper brachte ihnen die Musik bei.
Man kann das „Dachau-Lied“ bei Youtube finden. Melodie und Text gehen unter die Haut. Bei der Geburtsstunde dieser Komposition gab der einäugige Schirokauer den Spähposten, welch ein tiefgründiges Bild.
Die Nazis beginnen mit ihrer aggressiven Außenpolitik und greifen im Herbst 1938 nach dem Sudetenland. Im KZ Dachau wird Platz geschaffen. Viele Gefangene, darunter Arno Schirokauer, werden ins KZ Buchenwald verlegt. Das Lager steht unter der Leitung eines berüchtigten Pärchens: SS-Standartenführer Karl Otto Koch und seine Frau Ilse, die Hexe von Buchenwald. Kommandant Koch ist die Blaupause eines korrupten, perfiden Schweins. Er schlägt dermaßen über die Stränge, dass die Nazis ihn kurz vor Kriegsende am 5. Mai 1945 erschießen. Sadistische Wachleute und willkürliche Gewalt sind auch in Buchenwald an der Tagesordnung. Im Zuge der Reichskristallnacht am 9. November 1938 werden gezielt Juden in Deutschland und dem angeschlossenen Österreich verhaftet. Zehntausend sogenannte „Aktionsjuden“ landen auf einen Schlag in Buchenwald. Darunter auch Hans Schirokauer, Arnos Bruder der in Peitz zur Welt kam. Zum „Glück“ sind die Nazis zu diesem Zeitpunkt daran interessiert, den Juden ihr Vermögen auszupressen und sie zur Ausreise zu drängen. Die Familie hilft: Bruder Felix Schirokauer, ein Schiffsbau-Ingenieur mit Beziehungen zahlt Lösegeld für Arno und Hans. Am 12.12.1938 kommt Arno frei. Seine im Juni in Florenz geborene Tochter Annette hat er noch nicht gesehen.
Lesen sie in der nächsten Ausgabe über die Flucht und dem mühsamen Neubeginn in den USA.
Daniel Ratthei
Lesen Sie in der nächsten Ausgabe die schweren Jahre der Flucht, seine Gefangenschaft in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald und der Neubeginn in den USA.