Über den (fast) vergessenden Cottbuser Schriftsteller, Radio-Pionier, Kritiker, Germanisten, KZ-Überlebenden, Draufgänger, Emigranten, Genius…
Nach knapp 13 Monaten Gefangenschaft in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald kommt Arno Schirokauer (39) am 12.12.1938 frei. Sein Bruder Felix, ein Schiffsbau-Ingenieur mit weitreichenden Beziehungen, zahlt die Lösegeldsumme von 1.300 Dollar. Ehefrau Erna (32), Sohn Conrad (9) und die frischgeborene Tochter Annette (6 Monate) warten noch in Florenz. In der toskanischen Metropole gibt es eine deutsche Schule, ein deutsch-jüdisches Landschulheim und eine deutsche Künstlerstiftung- aber auch eine NSDAP-Ortsgruppe. Mussolinis Faschisten lassen die jüdischen Flüchtlinge gewähren, der Wahn des deutschen Antisemitismus hatte Italien nie erreicht, bis im Mai 1938 Adolf Hitler höchstpersönlich „La Bella“ – die Wiege der Renaissance besucht. Ab da ändern sich die Umstände. Ein „Rassengesetz“ wird schleunigst verabschiedet. Die jüdischen Emigranten müssen innerhalb von 6 Monaten das Land verlassen.
Arno Schirokauer, mit der Auflage freigekommen, von Deutschland schnellstmöglich nach Kuba zu emigrieren, liest in Berlin die angestaute Post. Dabei sind Briefe und Fotos aus Italien. Er notiert im Tagebuch: „Die Bilder! Der Junge so, dass mir das Herz zittert. Und der dicke, wohlgelaunte Wurm, das Andenken an Florenz, noch kein Mensch, aber die Verheißung eines Menschen – ein richtiges Versprechen.“ Der Draufgänger Schirokauer beantragt in Berlin ein Visum für Italien, welches die Gestapo inklusive Wiedereintritt nach Deutschland rundweg ablehnt. Er fährt nach Leipzig und siehe da, die sächsischen Behörden genehmigen die Anfrage. Obwohl man dem Intellektuellen, an seinem geschwächten Körper und den geschorenen Haaren das KZ förmlich ansieht, und seine verdächtige Erscheinung jeden Polizisten und Grenzbeamten magnetisch anzieht, reist Arno mit der Bahn für fünf Tage nach Florenz, um endlich seine Frau und die Kinder wiederzusehen.
Aus Erna Schirokauers „Erinnerungen“: „Es war wohl 3 Uhr nachts, als der Zug endlich ankam. Kann ich den Versuch machen, dieses Wiedersehen zu beschreiben? Die Erinnerung allein ist überwältigend. „Unser Papi war da und kam wie zwei Weihnachtsmänner“ schrieb Conrad an einen Freund. Wir waren selig. Aber Arno traute sich keinerlei Berührung. Er hatte Angst, uns mit seiner Furunkulose anzustecken. Aber schon allein die Tatsache seines „Reiterkunststückes“ zeigte, dass sein Geist ungebrochen war…“
Auf fünf Tage Seligkeit folgt erneut lange Trennung. Die Flucht aus Europa ist zusammen nicht möglich. Erna Schirokauer wuchs in Berlin auf, kam allerdings in Brüssel zur Welt. Diese Tatsache ermöglicht ihr und den Kindern über die belgische Quote direkt in die USA einzureisen – in jenen Tagen der absolute Jackpot! Im Februar 1939 gehen die drei in Genua an Bord der „SS Rex“ und steigen erst in New York wieder aus. Fast zeitgleich legt Arno in Hamburg auf der „Orinoco“ mit dem Ziel Havanna ab. Sein Bruder Felix besorgt ihm gar ein 1. Klasseticket auf dem Passagierschiff. Die Visumkaution von 5000 Dollar legt der befreundete Professorenvater Samuel Singer aus.
Allerhöchste Zeit! Schon auf der nächsten Fahrt der „Orinoco“ wird jüdischen Flüchtlingen, trotz bezahltem Visum, die Einreise nach Kuba und Mexiko verweigert – und Retour geschickt. Die meisten Länder lehnen die (uneingeschränkte) Aufnahme von Juden ab. Für viele, die lange gezögert haben, wird Europa nun zur Falle, die mit Kriegsbeginn im September 1939 zuschnappt.
In Havanna angekommen, werden alle jüdischen Emigranten im berüchtigten Auffanglager „Tiscornia“ untergebracht. Die örtlichen Beamten sind dermaßen korrupt, dass die Weiterreise ohne Geldzahlung nicht möglich scheint. Wachleute schikanieren die Gestrandeten, um die Zahlungsbereitschaft zu heben. Die meisten Juden begleichen mit ihren letzten Reserven, nicht so der Cottbuser Arno Schirokauer, der sich wehrt: „Eine Gegenbewegung organisierte sich. Solange noch ein einziger seine Entlassung erkaufte, war mit gebührenfreier Entlassung nicht zu rechnen. Also den Agenten das Geschäft verpatzen. Zusammenhalten. Sich behaglichem Lustwandel ergeben, das Leben sichtlich genießen, von Zufriedenheit strotzen, den Agenten verständnisloses Grinsen entgegensetzen. Mal sehen, ob das zieht.“ (aus: „Ankunft in Havanna“ von Arno Schirokauer)
Es wirkt. Nachdem die Einwanderungsbeamten genug Bestechungsgeld zusammenrauben, lassen sie auch die widerspenstigen Flüchtlinge ins Land. Arno in einem Brief lapidar: „Ich war 3 ½ Tage da, und es war in Anbetracht meiner Dachauer Vorübung ein Kinderspiel.“ Aber nun sitzt er viele Wochen allein in Kuba fest. Ehefrau Erna, die zunächst in New York bei Verwandten unterkommt, versucht alles, um ihren Mann in die USA zu holen. Sie ersucht Hilfe bei verschiedenen Organisationen oder Privatpersonen (wie Thomas Mann). Der Durchbruch gelingt dem Germanisten Wolfgang Paulsen, der in Memphis, Tennessee am christlichen Southwestern College lehrt. Paulsen, der Anfang der 30er Jahre in Leipzig studierte und Schirokauer kannte und bewunderte, verschafft ihm einen Job als Assistant Professor für Deutsch und Geschichte. Für einen Mann wie Schirokauer keine angemessene Stellung, aber das ist zunächst unerheblich, denn der Ruf ans College ist seine Eintrittskarte für die USA.
Im Mai 1939 trifft er in Memphis ein. Aus einem Brief: „Hinter uns liegt das Schlimme und Gefährliche und beinahe Aussichtslose – und vor uns liegt alle Landschaft hell und heiter und weiterhin offen. Memphis – Straßen riesig breit und mit Rasenbändern zu beiden Seiten. Platzverschwendung so, dass man zum nächsten Briefkasten am besten mit dem Auto fährt.“ Aus seinen Notizen: „Es fällt mir auf – die ungeheure Verschwendung.- Jedem ein halbes Huhn. Aber keiner knabbert. Ist der Schenkel fertig und das weiße Fleisch zu Ende, so kann man ein neues halbes haben! Ganze Braten und ganze Würstchen gehen zum Abfall. Eine solche Unachtsamkeit auf materielle Dinge müsste doch freimachen für anderes…“
Alles in den USA ist anders und sehr gewöhnungsbedürftig. Die preußische Erziehung prallt regelmäßig mit der lockeren amerikanischen Art zusammen. Im Gegensatz zu Erna, Conrad und Annette tut sich Arno schwer mit der englischen Sprache. Aber in der Germanistik, die er in einem fernen, früheren Leben praktizierte, liegt auch die Hoffnung auf Arbeit an einer amerikanischen Universität. Als Schriftsteller ist er hier ein Nobody.
Der Krieg im September 1939 beginnt und die folgenden Jahre sind vor allem von Sorge durchdrungen: Um die Verwandten und Freunde in Europa (Arnos Schwester Emmy stirbt in Auschwitz), Geldprobleme, Eheprobleme, gesundheitliche Probleme. Der psychische Druck auf Arno Schirokauer ist enorm und schlägt sich aufs Gemüt. Ihn quälen wiederkehrende Attacken aus Koliken, Migräne und Depressionen. Die Schirokauers müssen sich durchschlagen. Erna geht putzen. Arnos Lehrtätigkeiten sind nie von langer Zeit. Immer wieder ziehen sie um. Auf die wenigen Uni-Vakanzen kommen zu viele Bewerber.
Am 16.02.1945 notiert Schirokauer ins Tagebuch: „US Bomber über Cottbus – Russen 12 Meilen davor!!“ Am 8. Mai: „V-E-Day. 5 ½ Jahre. Der Krieg ist aus. Sie sind stumm. Totenstumm: Hitler, Goering, Himmler, Goebbels, hey… Man hört sie nicht. Der Krieg ist zu Ende!“
Zu kurzes Happy End. 1946 bekommen die Schirokauers ihre amerikanische Staatsbürgerschaft. Im gleichen Jahr geht der große Traum in Erfüllung. Arno wird zum Professor of German Philology an die Johns Hopkins Universität in Baltimore berufen. Der scharfsinnige Denker avanciert hier zur geachteten akademischen Stimme. 1953 kehrt er sogar für eine Gastprofessur an die Uni Frankfurt nach Deutschland zurück. Er wird ehrwürdig empfangen. Noch einmal besuchen die Schirokauers alte Freunde und bekannte Orte. Eine dauerhafte Stellung in Frankfurt aber lehnt er ab. Seine Frau und die Kinder wollen nicht mehr zurück. Die Eheleute Arno und Erna haben das Gefühl, es endlich geschafft zu haben. Aber die Konstante in Arnos Lebensgeschichte war leider die: Sobald er irgendwo Erfolg hatte, warf ihn das Schicksal aus der Bahn. Diesmal endgültig: Am Montag, den 24. Mai 1954 stirbt Arno Schirokauer mit nur 54 Jahren unverhofft an einem Herzanfall…
Daniel Ratthei
Mein Tipp: Die Erinnerung an Arno Schirokauer in Cottbus lebt weiter. An seinem Geburtshaus (Brandenburger Platz 6) hängt eine Denkmalsplakette. In der Stadtbibliothek kann man sich einige Schriften ausleihen. Wer Schirokauer liest, wird von seinem reichen, lebendigen Können überrascht sein!