das große interview: Angelika Koal

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Wo man Hilfe zur Selbsthilfe bekommt

Gespräch mit Angelika Koal, Leiterin der Regionalen Kontakt-  und Informationsstelle für Selbsthilfe

Frau Koal, Sie leiten seit vielen Jahren die REKIS. Was verbirgt sich hinter dieser Abkürzung?
REKIS bedeutet Regionale Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe. Wir verwenden aber seit einigen Jahren auch den Begriff Selbsthilfe-Kontaktstelle, und er hat sich schon richtig eingebürgert.

Seit wann gibt es die REKIS in Cottbus?
Die REKIS ist 1994 gegründet worden. Mein Vorgänger, Manfred Bromundt, hatte diese Gründung als eines von wenigen Modellprojekten im Land Brandenburg in den Händen. Ich selbst leite die Selbsthilfe-Kontaktstelle seit zehn Jahren.

Welchen Anlass oder welche Notwendigkeit gab es für den Start dieses Modellprojektes?
In der alten Bundesrepublik gab es schon seit den 70er Jahren Selbsthilfegruppen. Sie entstanden nach einem Wandel des gesellschaftlichen Klimas, der einige Tabus außer Kraft setzte. Nachdem Homosexualität nicht mehr strafbar war und Süchte als Krankheiten und nicht mehr als moralische Mängel angesehen waren, begann die Zeit, in der über vieles geredet werden konnte. In der DDR spielten sie keine so gravierende Rolle. Hier beschränkte sich die Problematik auf Kirche und Bürgerbewegung. Anfang der 90er Jahre gab es auch in den neuen Bundesländern Bestrebungen, Selbsthilfe-Kontaktstellen einzurichten als Anlaufpunkte für Menschen, die Selbsthilfegruppen gründen wollten.

Was zeichnet Selbsthilfe aus?
Dass sie sich selbst trägt. Die Teilnehmer*innen  einer solchen Gruppe finden sich zu einem selbstgewählten Thema zusammen, das kann medizinischer oder auch sozialer Art sein. Sie tauschen Erfahrungen aus oder betreiben Lobbyarbeit, erweitern das Wissen über ihre Krankheit und wollen Verbesserungen in ihrer Versorgung erreichen.

Welchen juristischen Status haben Selbsthilfegruppen?
In Selbsthilfegruppen finden sich Menschen zusammen, die ein gleiches Anliegen, ein gleiches Thema eint. In den vergangenen Jahren  haben sie sich relativ häufig als Vereine konstituiert. In den letzten Jahren fungierten viele eher als lose Zusammenschlüsse.

Angelika Koal

Angelika Koal

Steckt eine Wahrheit in dem geflügelten Wort, das da heißt:  „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.”?
Im weitesten Sinne ja. Aus dem einfachen Grund: Wenn ich selbst für mich etwas tue, bin ich nicht fremdbestimmt. Ich kann erfahren: Welche Therapiemöglichkeiten können noch eingesetzt werden bzw. ich höre von den anderen Gruppenmitgliedern, was sie selbst für sich getan haben und was ihnen außerhalb der Schulmedizin gut getan hat. Da kann ich meinen Genesungsprozess selbst aktiv begleiten. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, dass diese aktive Begleitung wesentlich zum Genesungsprozess beitragen kann.

Wohin wendet sich, wer  Informationen über Selbsthilfegruppen  wünscht oder gar eine gründen will?
Er/Sie kommt am besten zu uns in die Selbsthilfekontaktstelle in der Lila Villa, Thiemstraße 55. Es ist zu empfehlen, sich telefonisch anzumelden. Er/Sie erreicht uns unter 0355-54 32 05. Wir vermitteln Selbsthilfeinteressierte in bereits bestehende Selbsthilfegruppen. Sie können sich an uns wenden, wenn sie Gleichgesinnte finden möchten. Selbstverständlich unterstützen wir auch bei der Neugründung von Gruppen. Man kann jedenfalls sagen: Nur Mut – sprechen Sie uns an, wir zeigen Ihnen Wege zur Bewältigung Ihrer Probleme.

Wie viele Selbsthilfegruppen gibt es denn in unserer Region, und wie viele Mitglieder gehören ihnen an?
Es gibt zurzeit 134 Gruppen zu den unterschiedlichsten Themen. Wir schätzen, dass ihnen 3.200 bis 3.500 Interessenten angehören.

Existieren alle Selbsthilfegruppen unter dem Dach der REKIS, oder gibt es auch „Wildwuchs”?
Es gibt keinen Zwang, bei uns organisiert zu sein. Wir legen allerdings Wert darauf, zu wissen, welche Selbsthilfegruppen es in der Region gibt, damit wir Interessenten dorthin vermitteln können. Aber jede Selbsthilfegruppe kann eigenständig agieren. Wenn sie es wünschen, erhalten sie von uns Informationen zu bestimmten Themen, die wir anbieten. Sie sind dann in unserem E-Mail-Verteiler, so dass sie unsere Angebote nutzen können. Aber, wie gesagt, es gibt keinen Zwang.

Womit beschäftigen sich Selbsthilfegruppen?
Es sind thematisch eigentlich keine Grenzen gesetzt. In letzter Zeit sind vermehrt Gruppen entstanden, die etwas davon aussagen, dass Vereinsamung in unserer Gesellschaft eine größere Rolle spielt. Einsamkeit bringt oft Folgeerkrankungen hervor. Deswegen sind wir immer bereit, Selbsthilfegruppen in sozialen Belangen zu unterstützen.

Wie oft und wo treffen sich Selbsthilfegruppen?
Die Treffpunkte sind ganz unterschiedlich. Wir versuchen natürlich, Räume zur Verfügung zu stellen bzw. Räume zu vermitteln. Aber ansonsten suchen sich Selbsthilfegruppen ihre Treffpunkte auch selbst. Üblicherweise treffen sie sich einmal im Monat, manche auch mehrmals. Im Mittelpunkt steht natürlich der Erfahrungsaustausch zu den eigenen Belangen. Aber es gibt auch gemeinsame Aktivitäten wie Theater-, Kino-, Tierpark-, Café-Besuche. Zweimal im Jahr laden wir Personen, die in den Gruppen den „Hut aufhaben” und Verantwortung übernommen haben, zum Erfahrungsaustausch ein. Sie kommen und hören: Was machen andere Selbsthilfegruppen, wovon wir vielleicht profitieren können. Wir genießen es daran teilzuhaben, zum Beispiel von der Freude und auch den Problemen der Rollstuhlfahrer aus der Selbsthilfegruppe Multiple Sklerose bei Ausflügen oder dem Besuch von Einrichtungen zu erfahren. Insofern bekommen wir einen guten Einblick in das Leben der Gruppen. Mein Paradebeispiel ist immer eine MS-Selbsthilfegruppe: Was kann so eine Gruppe, was die Familie nicht kann? Die MS-Gruppe hatte zum Beispiel vor einigen Jahren einen Ausflug zur Sommerrodelbahn in Teichland organisiert. Mit den Betreibern war vereinbart worden, dass die Bahn angehalten wird, so dass alle Beteiligten aus den Rollstühlen herausgehoben und in den Schlitten gesetzt werden konnte. So konnten sie die Sommerrodelbahn nutzen. Das ist natürlich ein logistischer Kraftakt, was eine Familie gar nicht leisten kann. Wenn man die Begeisterung der Mitglieder erlebt, noch wochen- und monatelang später, spürt man die Kraft der Selbsthilfe.

. . . und motiviert für die eigene Arbeit, was natürlich wiederum der Selbsthilfe zugutekommt. Wie verläuft die Arbeit für Sie weiter, jenseits aller Aktenarbeit und dgl.?
Wir begleiten natürlich neu gegründete Selbsthilfegruppen. Es braucht seine Zeit, bis so eine Gruppe zusammenwächst. Zuerst hat man das Gefühl, die erzählen nur immer wieder von ihrer Krankheit, kommen eigentlich nicht vorwärts. Da hat man Sorge: Sie kommen das nächste Mal nicht wieder, weil es nur um die Krankheit geht. Irgendwann merkt man aber: Da haben Menschen zueinander gefunden, die sich aufeinander freuen, nach einer Zusammenkunft noch gemeinsam wohin gehen, etwas unternehmen. Ich weiß von einer Schlaganfallgruppe im Klinikum, die sich vorgenommen hatte, sich auf dem Weihnachtsmarkt zu treffen. Sie suchten die Öffentlichkeit. Wenn dann zwölf Rollstuhlfahrer*innen an einem Glühweinstand stehen, dann ist das für sie eine wunderbare Atmosphäre, ein schönes Gemeinschaftsgefühl. In dieser Gruppe kommen immer wieder Vorschläge für gemeinsame Freizeiterlebnisse, statt nur über die Krankheit zu reden. Dann merkt man, dass die Leute nach vier Wochen gern wiederkommen. Ein Zeichen dafür, dass unsere Arbeit erfolgreich war.

Man könnte schlussfolgern, dass man in einer guten Selbsthilfegruppe – zumindest zeitweise – seine Krankheit vergessen kann?
Ja, sie  reden oft auch über andere Dinge. Für mich ist so ein Gruppenbesuch wie in dieser Schlaganfallgruppe ein Moment, der erdet. Es gibt Leute, die sitzen im Rollstuhl und kommen und sagen, sie seien zufrieden. Da merkt man, dass sie die kleinen Fortschritte, die sie in vier Wochen machen, zu schätzen wissen, was in unserem hektischen Alltag oft vergessen wird. Sie unterstützen sich ja auch bei bestimmten Behördengängen oder Kuranträgen. Wenn einer mit dem ganzen Bürokram nicht zurechtkommt, sagt ein anderer: Komm, ich helfe dir. Das ist etwas, wofür ich in der Arbeit dankbar bin.

Ihre Arbeit stelle ich mir ja mehr menschen- als büroorientiert vor. Was erleben Sie so täglich?
Ja, das ist unser Anspruch. Jeder, der zu uns kommt, soll die Kontaktstelle mit einem Angebot verlassen. Das muss nicht immer eine Selbsthilfegruppe sein. Wir sind ja als Kontaktstellenmitarbeiter in verschiedenen Netzwerken der Stadt unterwegs, um das ganze Spektrum der Stadt Cottbus zu kennen und auch dorthin vermitteln zu können, z.B. das Repair Café an der BTU. Das ist ein schönes, ergänzendes Angebot neben vielen anderen, die es in der Stadt gibt.

Es gibt ja Krankheiten, Süchte, Ängste, Befindlichkeiten, über die eine(r) nicht gern spricht. Ist er/sie bei Ihnen auch in guten Händen?
Sie sprechen das Thema der Anonymität an. Wer dieses Problem hat, kann mit einem guten Gefühl in die REKIS kommen. Selbstverständlich bleibt seine Anonymität gewahrt. Wenn er/sie zu seiner/ihrer Krankheit eine Selbsthilfegruppe gründen will, greifen wir die Idee auf und gehen, um Mitstreiter und Teilnehmer, Gruppenmitglieder werbend, an die Öffentlichkeit.

Das trifft auch auf die Anonymen Alkoholiker und Suchtkranken zu?
Die sind nicht unter unserem Dach angesiedelt, sondern zum Beispiel bei der Diakonie, im Suchtzentrum Tannenhof oder als freie Gruppen. Bei  diesen Problemen ist oft eine professionelle Begleitung notwendig. In diesem Gruppen bleiben Sozialarbeiter „am Ball”, zumindest am Anfang. Wir bauen dann keine Doppelstrukturen auf, vermitteln also in diese Gruppen.

Welche Rolle spielt in der Selbsthilfe das ehrenamtliche Engagement?
Selbsthilfe funktioniert nur über das Ehrenamt. Natürlich werden die Selbsthilfegruppen mit medizinischem Hintergrund von den Krankenkassen unterstützt. Vom Gesetzgeber gibt es dafür genaue Festlegungen, damit Selbsthilfegruppen, -kontaktstellen und -organisationen wie Rheumaliga oder Diabetikerbund ihre Arbeit verlässlich verrichten können.

Wer unterstützt Gruppen mit sozialem Hintergrund?
Finanziell niemand. Wir haben die Möglichkeit, ihnen organisatorische Hilfe und Unterstützung anzubieten. Trotzdem herrscht bei diesen Gruppen Dankbarkeit, dass sie Gleichgesinnte gefunden haben, mit denen sie sich treffen und reden können.

Ich denke in diesem Zusammenhang an von ihren Kindern getrennte Väter…
Es gibt eine Väterinitiative  beim Lokalen Bündnis für Familie. Mit der arbeiten wir übrigens auch eng zusammen. Wir selbst haben eine soziale Selbsthilfegruppe in Aufbau. Die nennt sich „Trennung, Scheidung, Neubeginn”. Das sind Belange, die die Mitglieder bewegen und das Bedürfnis wecken, sich darüber auszutauschen. Wir geben da Unterstützung, indem wir einen Coach stellen, der auch über die Kontaktstelle finanziert wird. Aber ansonsten tragen die Gruppen ihre Mieten und sonstige Kosten selbst.

Spiegeln sich eigentlich in der Gründung und Arbeit von Selbsthilfegruppen gewisse gesellschaftliche Erscheinungen, Entwicklungsprozesse, Sorgen und Ängste wider?
Die meisten Anfragen kommen zu psychischen Problemen, Angst, Depressionen, Mobbing. Zu Angst und  Depressionen haben wir drei verschiedene Gruppen, dazu eine spezielle Gruppe zu bipolaren Störungen, eine Gruppe für Angehörige von psychisch Kranken, eine Selbsthilfegruppe für Borderline und andere Persönlichkeitsstörungen. Wir konstatieren also eine große Bandbreite der Selbsthilfe, die sich mit diesen Krankheiten auseinandersetzt.

Wirken die verschiedenen regionalen und lokalen Kontaktstellen für Selbsthilfe im Land und im Bund in irgendeiner Weise zusammen?
Ja, wir haben eine Landesarbeitsgemeinschaft der Selbsthilfekontaktstellen in Brandenburg, die sehr aktiv ist. In ihr arbeiten 21 von 22 Kontaktstellen zusammen. Wir als REKIS Cottbus sind im Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft. Wesentlich ist die Vernetzung der Kontaktstellen untereinander, da in den Kontaktstellen oft Einzelkämpfer agieren. Wir stehen in regelmäßigem Austausch. Dreimal jährlich tauschen wir uns bei Fachtreffen in Brandenburg aus. Unabhängig davon arbeiten wir in der Niederlausitz eng mit den Kontaktstellen in Guben, Spremberg und Lauchhammer zusammen. Mit ihnen gemeinsam sind wir im Januar mit einer App für die Selbsthilfe Lausitz ins Netz gegangen, die unsere Kontaktstellen verbindet.

Beim Googeln fand ich die NAKOS, die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen. Ist das ein Dach über dem Dach?
Sie organisiert einmal im Jahr eine Jahrestagung der Selbsthilfegruppen. Sie findet diesmal in Magdeburg statt, wo man mit Vertretern von Selbsthilfegruppen aus der gesamten Bundesrepublik ins Gespräch kommt. Ebenfalls einmal im Jahr findet der Länderrat statt, wobei sich Vertreter*innen aus allen Bundesländern treffen und sich zu Themen, Probleme und Tendenzen der Selbsthilfebewegung austauschen.

Die NAKOS ist sicher auch ein gutes Instrument sowohl für die Kontaktstellen und privaten Selbsthilfeinteressierten…
Unter www.nakos.de findet man Adressendatenbanken, die den Weg zu Selbsthilfekontaktstellen (rote Adressen), zu Selbsthilfevereinigungen im Gesundheits- und Sozialbereich (grüne Adressen) und zu Menschen mit seltenen  medizinischen und psychosozialen Krankheiten und Problemen (blaue Adressen) weisen. Eine weitere Datenbank führt mehrere hundert Selbsthilfegruppen mit überwiegend jüngeren Teilnehmer*innen auf. Es gibt bei der NAKOS auch interaktive Foren, wo man seine eigenen Fragen eingeben kann.

Wir haben dieses Gespräch aus einem aktuellen Anlass geführt. Die REKIS Cottbus gestaltet demnächst ihren 2. Selbsthilfetag. Was ist dabei zu erwarten?
Er findet am 20. April im Carl-Thiem-Klinikum (CTK) statt. Wir starten um 14 Uhr im neuen Eingangsbereich Leipziger Straße. Dort werden Stände der Selbsthilfegruppen aufgebaut sein und Gruppenmitglieder als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Unser erster Selbsthilfetag im CTK hatte große Resonanz in den Gruppen. Das Klinikum bot uns für die Veranstaltung einen großen Standortvorteil, weil Ärzte kurz von der Station zu uns kamen, sich informierten, mit den Besuchern sprachen. Wir spürten, hier besonders nahe an den Patienten zu sein. Mit dem Klinikum verbindet uns überhaupt eine sehr unbürokratische Kooperation, die die Arbeit mancher Gruppen erleichtert.

Interview: Klaus Wilke
Titelfoto: Rekis auf der Gesundheitsmesse mit dem Cottbuser Oberbürgermeister Holger Kelch.

Info
Lausitzer Kontaktstellen
Cottbus:
REKIS Cottbus, Thiemstraße 55, 03050 Cottbus; Tel. 0355 – 54 32 05; kontakt@selbsthilfe-cottbus.de
Guben: SEKIZ Spree-Neiße, Kaltenborner Straße 96, 03172 Guben; Tel. 03561 – 62 8 11 – 15; sekiz-spn@drk-niederlausitz.de
Spremberg: KISS Spremberg, Gartenstr. 9, 03130 Spremberg; Tel. 03563 – 98966-20  E-Mail: kiss@asf-spremberg.de
Lauchhammer: REKOSI, Alte Gartenstraße 24, 01979 Lauchhammer; Tel. 03574 – 464658 E-Mail: rekosi@kooperationsanstiftung.de
Hoyerswerda: SKS, Schulstraße 5, 02977 Hoyerswerda; Tel. 03571 – 40 83 65; sks-hy@diakonie-hoyerswerda.de

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