Flucht in die Nasszelle

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Es gibt so viele Wege, Menschen kennenzulernen. Je nachdem, wie viel Zeit Sie investieren möchten, und ob das Happy End obligatorisch oder optional ist.  Plattformen wie Tinder oder das altbewährte Knuddels bieten sich da an. Wer es gern offline mag, kommt an Bar und Café nicht vorbei. Damit ist in den meisten Fällen aber nur die Hälfte geschafft. Denn um einen Menschen richtig kennenzulernen, braucht es etwas mehr. Gib ihm Macht, soll Abraham Lincoln gesagt haben. Gib ihm ein Bahnticket, sage ich. Ich weiß nicht, ob es an den überklimatisierten Waggons oder den Nasszellen liegt, die ihren Namen in den meisten Fällen redlich verdient haben. Vielleicht ist es auch das einsetzende Heimweh beim Verlassen des Bahnhofs, das den Menschen die letzten Windungen verdreht. Wie sonst lässt es sich erklären, dass einzelne Reisende für sich und ihren Koffer vier Plätze brauchen? Ein kleiner Tipp: Beobachten Sie diese Leute mal etwas genauer. Je voller der Zug wird, desto angestrengter versucht der Homo Egoismus aus dem Fenster zu schauen oder die Dreiecke auf dem Sitzbezug zu zählen. Bloß kein Blickkontakt! Wieso eigentlich besitzen Smartphones plötzlich keine Lautstärketasten mehr, sobald sich die Zugtüren schließen? Und wie schwerhörig müssen Menschen sein, wenn ich sogar drei Sitzgruppen weiter jedes Wort mitsingen kann, obwohl der Verursacher Kopfhörer trägt? Oder: Haben Sie sich schon einmal das Zugabteil mit einem bayrischen Bauunternehmer teilen müssen, dessen Telefon mit dem Ohr verwachsen scheint? Und dabei hätte der Herr das Gerät gar nicht gebraucht, das Gegenüber in München hätte ihn bei der Lautstärke auch so gehört.
Es ist im Übrigen völlig egal, ob man von Cottbus nach Berlin oder zurückfährt, ob Frankfurt/Oder das Ziel ist (warum auch immer), oder welches Logo außen auf dem Zug steht. Abenteuerlustigen sei an dieser Stelle eine Fahrt von Berlin nach Cottbus nahegelegt. RE2, Freitagnachmittag. Mit dem Öffnen der Türen scheint so mancher auch im Oberstübchen auf Durchzug zu schalten. Bis dato völlig unauffällige Menschen fangen mitten in der Tür eine Unterhaltung an, andere hechten in einem Winkel um die Ecke, als wollten sie entgegenkommenden Menschen geradewegs in die Arme springen. Währenddessen drängen schon wieder die Nächsten in den noch halbvollen Zug. Dabei ist es doch so einfach: Wenn die, die reinwollen, die, die rauswollen, rauslassen, können die, die rauswollen, die, die reinwollen, reinlassen. Wer möchte, nutzt die Gelegenheit für flüchtigen Körperkontakt. Nur vertiefen sollten Sie diese mögliche Beziehung in spe auf gar keinen Fall.

Sebastian Schiller

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