„Wenn einer tritt, dann bin ich es”

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Debra Stanley und ihre Partie in „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny”

In der Regie von Matthias Oldag aus Leipzig und unter der musikalischen Leitung von Evan Christ arbeitet das Ensemble des Staatstheaters Cottbus an der Inszenierung „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” von Kurt Weill (Musik) und Bertolt Brecht (Text). Debra Stanley spielt (im Wechsel mit Liudmila Lokaichuk) die Jenny Hill. Ich habe keine Inhaltsangabe gefunden, die diese Partie für wichtig genug befunden hat, sie zu erwähnen. Wer ist Jenny Hill?
Für mich nimmt sie die Züge der amerikanischen Sängerin Debra Stanley an, die ihre sechste Spielzeit im Staatstheater absolviert. Was für eine Frau, was für eine Künstlerin!, stelle ich bei unserer Begegnung im großen Kuppelfoyer des Musentempels fest. Aus erwähntem Grund müssen wir uns der Jenny Hill auf einem Umweg annähern. Der Umweg heißt: ihre früheren Rollen. Wie sie über diese spricht! Es ist, als singe und spiele Debra Stanley ihre Partien nicht nur, sondern lebe in ihnen; sie begleiten sie, solange sie im Repertoire sind und noch darüber hinaus, und sie spricht gern darüber.  Und sie spricht gern in der ihr fremden Sprache, weil sie Worte und Wendungen und Bilder liebt.
Das Taumännchen in „Hänsel und Gretel” war eine ihrer ersten Rollen in Cottbus, später spielte sie Gretel: „Süße und tolle Partien. Man findet das Kind und das Mädchen in sich wieder.” Ängste, fiktiv und real, empfand sie, dabei betörend singend, in einem fast völlig gefüllten Formalinglas in „Der Fall des Hauses Usher”. Sie war eine bezaubernde Sugar („Manche mögen’s heiß”), „vielleicht nicht die intelligenteste, aber sooo liebenswert. Es war heilend für mich, Sugar in mir selbst zu erkennen.“ Dann reden wir über ihre Violetta in „La Traviata”. „Sie stößt die Tür auf, wenn wir über Jenny Hill reden wollen.”, sagt sie. „Das war eine Traumpartie. Violetta ist eine Frau wie viele, lebenslustig, aber ausgenutzt, mit schönen Träumen und schlechten Erlebnissen. Sie ist Lustobjekt, will allen Genuss geben und opfert ihr Glück und ihre Zukunft für die Liebe. Jenny Hill opfert die Liebe, um ihre Haut zu retten. Tragisch ist beides.”
Jenny Hill also. Sie kommt kurz nach der Gründung der Stadt durch drei Gangster nach Mahagonny. Das soll eine Genussstadt sein, ein Paradies, in dem man alles haben kann, wenn man sich an die (allerdings männergemachten)  Gesetze hält. Debra Stanley: „Mit süßer Stimme und mädchenhafter Art ausgestattet, findet sie Gefallen und entfacht Lüsternheit. Die Männer fühlen, sie ist geeignet, und sie fügt sich. Sie wird benutzt. Dabei hat sie als Ausweg aus erschöpfter Realität ganz andere Träume. Hurendasein, Alkohol und Drogen kommen darin nicht vor.” Da naht ein Hurrikan. Das ganze System kippt. Plötzlich ist alles erlaubt, und es gibt nur eine Sünde: kein Geld zu haben. Jenny hat sich angepasst. Als ein Freund wegen Schulden in Nöte gerät und vom Gericht zum Tode verurteilt wird, denkt Jenny nur an sich selbst: „Wenn einer tritt, bin ich es, und wenn einer getreten wird, bist du’s.”
Die Aktualität der Oper ängstigt die Sängerin: „Wohin immer ich sehe, habe ich Mahagonny vor mir, und mir wird himmelangst davor. Wenn man bedenkt, welche kleinen Anlässe in der Vergangenheit zu großen Kriegen, Konflikten und Krisen geführt haben, spürt man heute eine ganze Welt ins Wanken geraten. Jenny akzeptiert am Ende: ,Ich zuerst′. Ich wünsche mir eine andere Welt.”

Klaus Wilke
Foto: Debra Stanley als Jenny Hill. ©Marlies Kross

Premiere: Großes Haus, 11. März, 19.30 Uhr

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