hermann-Filmkritiker bei 29. FilmFestival Cottbus

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9. und 10. November

Henning Rabe

Los geht es am Sonnabend mit einem Jugendfilm, „FOMO. Fear Of Missing Out“ von Attila Hartung aus Ungarn. Gergö gehört zu den „Wölfen“, einer eingeschworenen Bande von YouTubern im Abiturienten-Alter. Sie veranstalten viele Streiche und challenges. Sie erstarren zur Statue auf befahrenen Straßen, klatschen wildfremden Frauen auf den Po oder turnen auf den Balustraden hoher Gebäude herum.
Bei einer Party laufen ihre Aktionen aus dem Ruder. Dort sind alle betrunken, völlig hinüber ist eine Lehrertochter aus der 11. Klasse. Sie posiert anzüglich mit einer Axt und bläst Gergös Zeigefinger, den er aus seinem Hosenstall heraussteckt. Später liegt sie bewusstlos in einem Bett. Seine Freunde provozieren ihn, sie zu vergewaltigen und das zu filmen. Stolz stellen sie einen demütigenden Video-Zusammenschnitt online, das Mädchen wird mit Häme übergossen. Sie verschwindet …

Moderierte die Preisverleihung: Ulrike Finck. Foto: Henning Rabe

Rasant geschnittener, spannender, dabei nahegehender Teenager-Streifen, der die Moral einer gutgestellten, like-affinen Jugend im Ungarn Orbans durchleuchtet.

Durch die Preisverleihung in der Stadthalle führt wieder witzig und professionell Ulrike Finck. Kurzweilig geht es auf die Hauptpreise zu. Die zwölf Wettbewerbs-Filme werden in drei Blöcken noch einmal vorgestellt, sodass man in Ausschnitten ermessen kann, was man alles so verpasst hat. Aber man kann sich ja leider nicht zerteilen …

Bester Schauspieler: Ermin Alban Ukaj aus Sarajewo. Foto: Henning Rabe

Der Regie-Preis geht an Teodor Kuhn aus der Slowakei für „Mit einem scharfen Messer“, über den ich auch sonst nur Gutes gehört habe. Der Preis für die beste Darstellerin geht an das ganze Ensemble in „Agas Haus“, der für den besten Darsteller an Ermin Alban Ukaj in „Vollmond“ (siehe 8. 11.).

Und dann verkündet Sergej Dworzewoj – der mit „Ayka“ letztes Jahr den Überflieger landete – den Siegerfilm: „Schwester“ aus Bulgarien (siehe ebenfalls 8. 11.). Da ist die Freude natürlich groß. Auch bei Svtela Tsotsorkova (Titelfoto), die mit einem Hinweis auf ihren unscheinbaren Wollpullover sagt: „An meiner Erscheinung könnt ihr ja sehen, dass ich nicht damit gerechnet habe.“ Deswegen gerät ihre Dankesrede aus dem Stegreif auch recht bescheiden. Sympathische Frau!

Drehte den Publikums-Liebling: Ljubow Borisowa. Foto: Henning Rabe

Im Anschluss läuft die polnische Einreichung für den Auslands-Oscar. „Corpus Christi“ von Jan Komasa hat es wirklich in sich, auch wenn es nicht mein Film Polska des Jahres ist.
Allein durch eine Robe wird ein gerade aus der Jugendhaftanstalt Entlassener durch günstige Umstände zum Priester einer kleinen Provinz-Gemeinde. Obwohl er ein völliger Amateur ist, z. B. benutzt er die Anleitung zur Beichtabnahme aus dem Internet, gewinnt er recht bald große Teile der Gläubigen für sich. Es ist die Inbrunst und das Herz, dass die Menschen überzeugt.
Doch bald muss man den Eindruck gewinnen, dass er der Einzige im Ort ist, der sich wie ein wahrer Christ verhält – und daraus bezieht der Film auch seine Brisanz. Es geht um Filz, Korruption, die Verstrickungen der institutionalisierten Kirche mit der Macht, um ihre moralische Verkommenheit.
Hat dieser echte und unerschrockene Christ eine Chance? Das Finale ist ein echter Schlag in die Magengrube. Kontemplatives, dabei ganz starkes, engagiertes Kino aus Polen. Hauptdarsteller Bartosz Bielenia ist eines der Gesichter des Festivals überhaupt und wird in den kommenden Jahren sicher noch oft auf der Leinwand zu sehen sein.
Nach dem rauschenden Empfang in der Stadthalle sause ich mit dem Shuttle – tolle Erfindung des Festivals –noch zum „Scandale“, dessen neue Räumlichkeiten trotz enormer Ausmaße beinahe aus allen Nähten platzen. Hier wird es wild, und ich verdufte recht rasch.

Dämmerung vor der Preisverleihung. Die Spannung steigt. Foto: Henning Rabe

In „Kojote“ erbt ein Städter, Misi (sprich Mischi), von seinem Großvater ein Häuschen in der Provinz. Gleich bei der ersten Besichtigung kommt ein selbstsicherer Nachbar, der ihm ein großzügiges Kaufangebot für das Haus macht. Denn er braucht den Boden für ein Thermal-Bad, das er mit ausländischen Investoren im Ort eröffnen will. Doch Misi ist stur und will hier mit seiner Liebsten sein Kind aufziehen.
Der Nachbar aber bekommt immer, was er will. Ihm gehört viel Land und der Baumarkt im Ort. Bürgermeister und Polizei tanzen nach seiner Pfeife. Wer ihm das Land nicht verkauft, wird bedroht und verprügelt, muss sogar um sein Leben fürchten. Die beiden Parteien rüsten sich wie in einem Western für den Kampf, der viel Blut kosten wird …
Die lustigste Szene mit einigem Gelächter im Saal ereignete sich übrigens bei einer Hochzeit, die ein Freund von Misi sprengt. Aus einer Handgreiflichkeit entwickelt sich in Windeseile eine dermaßen wüste Schlägerei – mit Pfannen, die auf Schädel gongen und Menschen, die durchs Fenster auf Autodächer fliegen –, dass man einfach nur erheitert ist.
Unterhaltsames Mainstream-Kino mit authentischem Hintergrund und viel, viel Adrenalin.

Das Plakat zum Publikums-Liebling. Foto: Henning Rabe

Der Abschluss in der Stadthalle wird dann ein wahrhaftes Finale! Gezeigt wird „Die Sonne über mir geht niemals unter“ von Ljubow Borisowa, der neben dem Publikumspreis noch mehrere andere Preise einheimsen konnte.
Jakutien: Altan tut eigentlich den ganzen Tag nichts, als auf sein Handy zu starren. Sein Onkel hat eine Fuchsfarm auf einer menschenleeren Insel und sucht händeringend eine Arbeitskraft, die sie für einen Monat betreut. Die Eltern finden, dass der Junge durchaus mal etwas Arbeit gebrauchen könnte. So findet sich der junge Städter in der frostigen Einöde an den Ufern der Labtew-See wieder.
Bald bemerkt er, dass er nicht allein in der Einsamkeit haust. In einer Hütte, die verflucht sein soll, wohnt ein steinalter Mann, der dem Jungen einen gehörigen Schreck einjagt. Nach anfänglichen Manschetten werden die beiden unzertrennlich und ein Spitzen-Team auf YouTube …
Großes Gefühlskino, das mitten ins Herz trifft. Großartige Darsteller, atemberaubende Landschaft, berührende Musik – alles passt und bezaubert. Ich drücke sämtliche Daumen, dass dieser Streifen es ins Kino schafft! Was für ein großartiger Ausklang. DANKE, COTTBUS!

Außer beim stummen Konzeptfilm „Centar“ war dieser Hinweis zum Glück nicht nötig. Foto: Henning Rabe

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