Kolumne März 2021

0

Ein Milchglas, bitte!

Ich gehöre zu einer Risikogruppe. Natürlich nicht, weil ich ein gewisses Alter erreicht habe. Zwar werde ich mittlerweile auch von Jugendlichen gesiezt, als Gradmesser dürfte das aber noch nicht ausreichen. Unter chronischen Krankheiten leide ich auch nicht, soweit ich weiß. Mein Leiden ist tatsächlich erst mit dem Aufkommen der derzeitigen Pandemie so richtig zum Tragen gekommen. Genauer gesagt: mit den Maßnahmen, um diese zu bekämpfen. Ja, es stimmt, ich bin Brillenträger. Für viele mag das jetzt nicht überraschend kommen, ist dieses Leiden ja doch recht offensichtlich. Aber wo sich Otto-Normal-Seher einfach eine FFP2-Maske über Mund und hoffentlich auch Nase zieht, beginnt für uns Brillenträger die große Unsicherheit. Plötzlich können wir mit den kleinen Jungs mitfühlen, über die wir als Kinder gelacht haben. Denen man ein Brillenglas zugeklebt hat. Nur dass es bei uns beide Gläser sind. Und ohne es zu wollen werde ich plötzlich zum Risikofaktor, der unbeholfen über Markt und Straße stolpert und dabei den Kopf in alle möglichen Winkel dreht, in der Hoffnung, doch noch einen durchsichtigen Teil der Brille mit den Augen zu erwischen. Im Laufe der Jahre habe ich mir viel Spott anhören müssen. Was schaust du denn durchs Fenster, komm doch rein! So was in etwa. „Vierauge“ nennt man meinesgleichen, auch „Brillenschlange“ erfreut sich nach wie vor hoher Beliebtheit. Letzteres habe ich aber noch nie verstanden, wie sensationell würde denn eine Schlange mit Brille bitte aussehen? Ich für meinen Teil bin jedenfalls dazu übergegangen, in einer geschmeidigen Bewegung Maske auf- und Brille abzusetzen. Das sorgt allerdings auch für eine gewisse soziale Distanz. Vermutlich glauben einige, ich sei arrogant geworden, schließlich grüße ich nicht mehr von der anderen Straßenseite. Das ist aber ein Trugschluss, ich kann die nett gemeinte Geste schlicht nicht sehen. Geschweige denn den Gestengeber. Deswegen bin ich dazu übergangen, den Menschen einfach immer zuzunicken. Oder zwischendurch in alle Himmelsrichtungen zu winken. Wer mich kennt, winkt zurück. Wer nicht, hält mich entweder für sehr freundlich oder sehr skurril. Mit beidem kann ich leben. Die Brille verschwindet dabei in der Manteltasche, wo das ständige Betatschen der Gläser mit den Fingern die Misere eigentlich nur noch verschlimmert. Aber für eine Nackenkette an den Bügeln bin ich zu jung und für das Verstauen des Seheisens über den Augen fehlt mit die Augenbrauenfülle eines Theo Waigel. Lachen Sie also das nächste Mal nicht, sollte ihnen auf der Straße jemand mit zusammengekniffenen Augen entgegenkommen, sondern erinnern Sie sich an diese Zeilen. Wir sehen uns. Oder eben nicht.

Sebastian Schiller

Teilen.

Hinterlasse eine Antwort