Mein Bücherbord – „Da knackte es im Granit des Sockels”

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Ein Sachbuch, spannend wie ein Thriller: „Lemberg. Die vergessene Mitte Europas” (Aufbau, 24 EUR).  Lwow und Lwiw sind andere Namen für die Stadt in der Ukraine. Lutz C. Cleveman hat sich aufgemacht, Antworten auf Fragen zu suchen, die ihn brennend beunruhigen. Lemberg war im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine „bunte Stadt” voller unterschiedlicher Kulturen, Nationalitäten und Glaubensrichtungen. Man nannte es das „Jerusalem des Ostens”. Aus dem Schmelztiegel humanistischer Vielfalt wurde eine Brutstätte aller scheußlichen -ismen der  Neuzeit: Faschismus, Stalinismus, Rassismus, Nationalismus, Chauvinismus. Cleveman erzählt in prägnanten  Episoden wie dieser: Als die Bürger 1990 das verhasste Lenindenkmal abrissen, „da knackte es im Granit des Sockels” und zum Vorschein kamen jüdische Grabsteine!

Einen richtigen schönen, unterhaltsamen und dabei trotzdem trotzigen, bitteren, lautstarken Schmöker können wir nach zehn Jahren der Enthaltsamkeit (pardon: der harten künstlerischen Arbeit) einen Roman aus der Feder der Amerikanerin Annie Proulx verschlingen, genießen, bewundern und darüber nachdenken: „Aus hartem Holz” (Luchterhand, 26 EUR). Es ist die Saga zweier Familien, die sich im 17. Jahrhundert, aus Europa kommend, in Nordamerika ansiedeln, Wälder abzuholzen und damit der Zivilisation eine katastrophale Richtung geben. Proulx führt die Geschichte weiter bis in unsere Zeit. Immer bleibt der Grundgedanke, dass die Menschen den Ast absägen, auf dem sie gerade so noch sitzen. Eine Wortschöpfung wie „steinstill” oder die Beschreibung des den Europäern unbekannten Kaffees machen das aussagegigantische und dicke Buch (890 kurzweilige Seiten) zu einem Lesevergnügen.

Nicht so sehr ein Lesevergnügen, dafür mehr – ein Bildungserlebnis in Sachen Jugendsprache oder Smartphonesprache vermittelt der Roman „Sonne und Beton” (Ullstein fünf, 18 EUR) von Felix Lobrecht. Eine Clique von 16-Jährigen erlebt Alltag in der trostlosen hochhäusigen Stadtlandschaft von Neukölln. Sie schwatzen, saufen, prügeln sich in Nationenwertung, kiffen, und auch das F-Wort mit dem i- oder dem englischen u-Vokal ist eine beliebte Vokabel. Solche ein Alltag braucht Abenteuer. Als die Schule neue Computer bekommt, bringen die vier welche an sich und versuchen, das große Geschäft zu machen. Die Geschichte nimmt einen eigenartigen Verlauf und endet merkwürdig.

Dmitri Schostakowitsch hat eine wunderbare Musik komponiert – Klassik in klassikfernen Zeiten. Der Brite Julian Barnes hat jetzt einen Roman darüber geschrieben, der „Der Lärm der Zeit” (Kiepenheuer & Witsch, 20 EUR) heißt. Selten hat in Buchtitel so gepasst. Musste der Komponist sich doch dem Lärm der Zeit entgegenstellen, der der Lärm von Stalinisten, Dogmatikern, Kulturbarbaren, Ignoranten war. Ergreifend die Schilderung jener Zeit, als Stalins Bluthunde wüteten. Nacht für Nacht stand der Künstler am Aufzug, weil er der Familie seine mögliche Verhaftung zu sehen nicht zumuten wollte. Politische Kapriolen, denen er sich immer wieder gegenüber sah, rufen heute nur Kopfschütteln hervor. Man wird künftig, wenn man Schostakowitsch-Musik hört, immer diesen Roman mitdenken müssen.

Klaus Wilke
Foto: Lesen in allen Situationen mit Klaus Wilke. © TSPV


Julian Barnes Der Lärm der Zeit

„Der Lärm der Zeit“
von Julian Barnes
kann auch als Hörbuch
bei audible.de
heruntergeladen werden.

Dieser Hinweis ist mit freundlicher Unterstützung
von audible entstanden.


 

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