„Sie kamen wie ein Heuschreckenschwarm”
Den Literatur-Nobelpreisträger 2021, den aus Sansibar stammenden Abdulrazak Gurnah, kannte hierzulande vor der Preisverkündung kaum einer. Zwar waren vor Jahrzehnten einige Romane von ihm veröffentlicht worden, aber sie hatten keinen Nachhall. Nun kann man „Das verlorene Paradies” (Penguin, 336 Seiten, 25 EUR) genüsslich lesen. Ja, genüsslich; denn die 1998er Übersetzung von Inge Leipold (1946 – 2010) weist den fernen Romancier als einen ausgezeichneten Stilisten aus. Der Roman erzählt von einem zwölfjährigen Jungen namens Yusuf, den sein Vater, um hohe Schulden abzutragen, bei einem Kaufmann als billige Arbeitskraft verdingt. Das war kurz vor 1900. Der Kaufmann nimmt ihn mit auf Reisen, auf denen er sowohl das Elend der Bevölkerung als auch die kulturelle Vielfalt kennenlernt. Überall wird er mit der Anwesenheit und der Hinterlassenschaft von Europäern, besonders Deutschen konfrontiert. „Sie kamen wie die Heuschrecken.” Diese wenigen Sätze deuten an, wie klug Gurnah brisante Themen bündelt. Und dazu diese Charakterbilder, Situationsschilderungen und die Einfühlung in das Erwachsenwerden eines jungen Menschen. Ein Leseerlebnis, von dem man nicht genug schwärmen kann.
Zu den bemerkenswertesten Büchern der letzten Wochen gehört noch eines älteren Datums, das es zuvor nur im englischen Original („Of Smiling Peace”, 1944) gegeben hatte, obwohl ein später berühmter deutscher Schriftsteller sein Autor ist. Stefan Heym hatte seinen Roman „Flammender Frieden” (C. Bertelsmann, 478 Seiten, 24 EUR) entgegen seiner sonstigen Praxis nicht ins Deutsche übertragen, weil er schon an seinem nächsten Roman „Kreuzfahrer von heute” saß. Nun ist es in einer guten Übersetzung von Bernhard Robben zu uns gelangt. Es erzählt von der Landung amerikanischer Truppen in Algerien und ihrem Kampf gegen Hitlers Afrikakorps. Wie immer bei Heym stehen sich Vertreter beider Seiten dramatisch gegenüber, hier der in der US-Army dienende deutsche Emigrant Bert Wolff und der Wehrmachtsoffizier Ludwig von Liszt. Wenn auch phasenweise in Dialogen antifaschistische und nazistische Parolen (natürlich mit Vorteilen für Erstere) ausgetauscht werden, dominieren doch, wie gewohnt, möchte man sagen, Action, Intrigen, Gewalt, Liebe, Sex. So hat der Roman noch nicht die Größe späterer „Heyme”, liest sich aber recht unterhaltsam.
In eine sehr ungemütliche Zeit führt auch „Falladas letzte Liebe” (Aufbau, 334 Seiten, 22 EUR) von Michael Töteberg. Hier ist zunächst eine Produktwarnung auszusprechen. Wer hinter diesem regelrechten Verkaufstitel eine idyllische Liebesromanze wie in Aufbau-Taschenbüchern über „Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe” erwartet oder erhofft, sieht sich enttäuscht. Wer aber nach der großen Fallada-Biografie von Peter Walther oder denen von Tom Crepon, Werner Liersch und Jenny Williams näheren Einblick in die Seelenkämpfe des morphiumsüchtigen Dichters und seiner genauso abhängigen Ehefrau Ulla verschaffen will, der findet in diesem Buch genügend Stoff. Töteberg gelingt eine bedrückend formulierte Situationsbeschreibung der Nachkriegszeit und vermittelt uns zudem interessante Begegnungen mit Menschen wie Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Ernst Rowohlt u.a. Es liest sich flott wie ein Roman, ist aber keiner.
Der Verleger und Publizist Jakob Augstein, der aus einer Verlegerfamilie stammt, seit ein paar Jahren aber weiß, dass er ein leiblicher Sohn des Groß-Schriftstellers Martin Walser ist, hat sich nun selbst in literarische Gefilde begeben. Sein Debütroman heißt „Strömung” (Aufbau, 300 Seiten, 22 EUR). Er erzählt von Aufstieg und Fall des Politikers Franz Xaver Misslinger. Einem Mann, der davon träumt, Parteivorsitzender, Minister, Vizekanzler zu werden. Seine Ehe hat er für seine ehrgeizigen Ziele aufs Spiel gesetzt. Bleibt seine Tochter Luise als Hoffnung. Die zerbricht auf einer Amerikareise. Es ist Trumps Amerika 2016, das statt Anziehung fast nur noch Anzüglichkeiten bietet. Es ist in dem Buch viel von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten die Rede, aber die Welt ist in einem mächtigen Veränderungsprozess. Der Erzählstrom mündet in ein mystisches Ende, das brillant erzählt wird. Dennoch überzeugt mich die Widerspiegelung politischer Vorgänge in der Bundesrepublik allemal mehr.
Klaus Wilke