Mein Bücherbord Januar 2022

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Geschichten aus der Mitte der Welt

Aufbau, 370 Seiten, 24 EUR

 Wer leidenschaftlich gärtnert, leistet seinen Beitrag, nicht nur aus dem Boden etwas hervorzuholen, sondern ihn zu gestalten; er bestimmt mit, wie unsere Umwelt aussehen soll. Eine gärtnernde Schreiberin, eine erfolgreiche Schriftstellerin ist Helga Schütz. Auch in ihrem neuen Buch mit stark autobiografischen Zügen ist das zu bemerken: „Heimliche Reisen” (Aufbau, 370 Seiten, 24 EUR). Ihre sprachlich glänzenden Miniaturen, die man einzeln als willkommene mehr oder weniger kurze Erzähltexte oder wie einen Roman lesen kann, lehnen sich an ihren eigenen Lebensweg von der schlesischen Abkunft, ihrem Geburtsort, über das brennende Dresden 1945, ihr Filmstudium in der DDR, ihre Partnerschaft mit einem verheirateten Mann, den Tod der 12-jährigen Tochter, eine Immobilienangelegenheit in der Wendezeit, Reisen nach Rom und nach Schlesien – ein kurzweiliges Deutschlandbild. Ihre schlesische Großmutter nannte so etwas „Geschichten aus der Mitte der Welt”. Wer in der DDR groß geworden ist und den Wandel danach mit guten und/oder schlechten Erinnerungen mitgemacht hat, findet viel Bekanntes. Ihre immer wieder aufscheinenden botanischen Kenntnisse legen einem nahe, dass auch in diesem Buch etwas ganz gesetzmäßig wächst.

Kiepenheuer &Witsch

„Geschichten aus der Mitte der Welt”, nicht als Einzelstücke, sondern nur in Romanzusammenhängen zu lesen, lässt auch Eva Menasse in „Dunkelblum” (Kiepenheuer &Witsch) erleben. Die gebürtige Wienerin, die seit 20 Jahren in Berlin lebt, zeichnet ein aufwändiges Dorfporträt. Dunkelblum gibt sich den Anschein politischer Demenz, will sich doch keiner aus der eindrucksvoll differenziert gezeichneten Einwohnerschaft an unangenehme Vergangenheiten, an Schuld und Verantwortung erinnern. Dabei ist in dem Ort in den letzten Kriegstagen ein barbarisches Massaker verübt worden. Knochenfunde bei Bauarbeiten lüften ein wenig den Mantel des Schweigens, der aber gleich wieder darüber gebreitet wird. Zumal sich eine neue Herausforderung auftut: Wieder kommen Fremde in den Ort: Ungarn hat die Grenze für DDR-Flüchtlinge geöffnet…Ein Buch sehr viel Hintergründiges über das Österreich unserer Tage und die politischen Gefahren für demokratisch regierte Länder erzählt.

Lübbe, 876 Seiten, 32 EUR

Die Mitte der Welt kann sehr groß sein, zum Beispiel den Tschad und Sudan, China, Japan und Nordkorea, die USA und Russland umfassen. Alle diese Länder fühlen sich gewissermaßen als Mitte der Welt. Außerdem sind sie Handlungsorte in Ken Folletts fulminantem Roman „Never. Die letzte Entscheidung” (Lübbe, 876 Seiten, 32 EUR). Einer seiner besten Romane. Ein Thriller, der Geschichte und Zukunft unbarmherzig widerspiegelt. Er geht von der These aus, das einst keiner der Machthabenden den Ersten Weltkrieg wollte, dieser aber wie ein vollmundiges Sommergewitter mit unzähligen Zufällen über die Menschheit hereinbrach. Kann das heute wieder geschehen? Ja, warnt uns Follett, indem er in seinem Roman politische, kriminelle, ökonomische, religiöse Interessen verkettet, die zu einer brandgefährlichen internationalen Situation führen. Wohin die mündet, sei hier nicht verraten. Nur so viel, die Spannung treibt Schweiß. Ist die Menschheit zu all dem fähig? Ein Glück, dass Follett sein Figurenensemble interessant und differenziert gestaltet. Gibt es schon kein Happy End, finden wir wenigstens Personen, denen unsere Sympathie gilt.

Aufbau, 230 Seiten, 34 EUR

Ein Buch, fast 80 Jahre alt, zieht seine Leser in Bann: „Der Kopflohn“ von Anna Seghers (Aufbau, 230 Seiten, 34 EUR). Der Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932 droht bei einer Eskalation gegenwärtiger Stimmungen und wirrer -ismen sich wieder zu einem Werk der Gegenwart zu gerieren. Ein junger Mann wird beschuldigt, bei einer Demonstration einen Polizisten getötet zu haben. Bewiesen ist das nichts. Indes locken Fahnungsplakate mit Belohnungsangeboten für denjenigen, der den Jungen ausliefert. In einem Dorf hat er Unterschlupf gefunden. Wird er gefunden, verraten, ausgeliefert? Das Buch ist in der Werkausgabe der Schriftstellerin erschienen, in der das Romangeschehen erklärt, kommentiert und durch weitere Hintergründe ergänzt wird. Wie alle Bücher der Seghers ruft es, ab und an wiedergelesen zu werden.

Klaus Wilke

 

 

 

 

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