Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Ein Verbrechen passiert, ein Mensch wird verletzt. Es wird eine Anzeige gefertigt, die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Die Beamten tappen allerdings erst einmal weitestgehend im Dunkeln, weil es bis auf das Opfer keine Zeugen gibt. Nun tritt folgendes Problem auf: Den Menschen geht das alles zu langsam. Man beginnt zu tuscheln, zu mutmaßen. Schuldige werden identifiziert. Gerüchte verbreiten sich, werden zu Tatsachen umformuliert. Eine geradezu perverse Lust am Skandal löst immer neue Empörungswellen aus, die mit dem eigentlichen Verbrechen schon lange nichts mehr zu tun haben. Bis es den Ersten reicht, sie ihre Hirne in den Leerlauf schicken, sich bewaffnen und losmarschieren. Klingt gruselig, oder?
Genau das ist Mitte April in Bagenz passiert. Eine Frau wurde vermutlich vergewaltigt. Schlimm genug. Ein paar Tage später geht sie zur Polizei, erstattet Anzeige. Weitere Tage später wurde dann plötzlich innerhalb weniger Stunden über asoziale Medien und Messenger eine Masse an Lügen losgetreten, die ihresgleichen sucht.Ein Asylbewerber soll es gewesen sein. Zudem soll er in einer nahen Jugendherberge hausen. Eine Tote soll es auch gegeben haben. Tatsächlich ermittelte die Polizei gegen Unbekannt, nicht mal eine Täterbeschreibung hat es gegeben.
In der Jugendherberge war eine Schulklasse untergebracht, nicht ein einziger Flüchtling. Und das Gerücht um eine tote Frau wurde mut- und böswillig in die Welt gelogen. Noch am gleichen Abend stürmte ein mit Schlägern und Zaunlatten bewaffneter Mob zur Herberge. Vermutlich, weil ein Gast die Scheinwerfer seines Autos auf die hirnlose Menge richtete, stoben die Gestalten auseinander und flüchteten. Die Polizei ermittelt wegen Landfriedensbruch. Was hatten sie vor? Ein netter Spaziergang in der Nacht, friedliche „Ausländer raus!“-Rufe in geselliger Atmosphäre, später noch ein Baseballspiel? Sicher nicht. Die Schulklasse wurde dabei so dermaßen eingeschüchtert, dass die Schüler ihre Klassenfahrt abgebrochen haben. Nichts, aber auch rein gar nichts, kann das Verhalten dieses Mobs erklären. Genauso wenig das der Leute, die diese Lügen bereitwillig verbreitet und dabei vor Freude in die Hände geklatscht haben. Ob die Polizei eher hätte darüber informieren sollen – darüber lässt sich streiten. Ich bin ehrlich: Diese Geschichte macht mich fassungslos. Tausende von Jahren Evolution liegen hinter uns. Aber wenn der Geifer tropft, verfallen wir kollektiv wieder in Zeit der Inquisition. Warum gab es keinen gesamtgesellschaftlichen Aufschrei? Wo ist die Empörung? Man möchte diese Leute fest schütteln und sie anbrüllen: Sagt mal, merkt ihr’s eigentlich noch?
Sebastian Schiller