Chilenen in Cottbus

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Spurensuche mit der Hebamme Carmen Gennermann

Beim Empanadas-Verkauf vor der Stadthalle Foto: D. Ratthei

Als 1970 in Chile der Sozialist Salvador Allende in freier, demokratischer Wahl zum Präsidenten gewählt wurde, schrillten in Washington die Alarmglocken. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger wörtlich: „Ich sehe nicht ein, weshalb wir zulassen sollen, dass ein Land marxistisch wird, nur weil die Bevölkerung unzurechnungsfähig ist.“ Sofort wird die gesamte Palette an offiziellen und geheim-operativen Maßnahmen losgetreten: wirtschaftlicher und politischer Boykott, Attentate und schließlich der Putsch.

Am 11. September 1973 übernimmt die Militär-Junta unter General Augusto Pinochet die Macht im Andenland. In den Folgejahren werden tausende Oppositionelle verhaftet, gefoltert und nicht selten umgebracht. Schon der Verdacht reichte aus, um von der Geheimpolizei verschleppt zu werden. Erst 1990 endet diese Diktatur. Pinochet wurde für kein einziges Verbrechen verurteilt. Eine Wahrheitskommission legte 2004 einen umfangreichen Bericht vor, über die systematischen Folterungen. Der Bericht ist frei verfügbar und lässt den Rezipienten fassungslos und wütend zurück.

Olé! Erster Nationalfeiertag im Exil. September 1977 in Sachsendorf Foto: Gerd Rattei

Das SED-Politbüro entschied nach dem Putsch, chilenische Flüchtlinge in der DDR aufzunehmen. Es kamen etwa 2000 Menschen aller Altersgruppen. So landete am 12. Juli 1977 nach langer Odyssee eine junge Studentin namens Carmen auf dem Flughafen Schönefeld in Berlin Ost. Auf dem Arm trägt sie ihr wenige Wochen junges Baby. Der Vater des Kindes ist schon da. Diese Tatsache war bis eben nur bange Hoffnung. Es gab keine gesicherten Informationen über seinen Verbleib. Nun ist es gewiss: Er ist da! Man fällt sich in die Arme. In einem fremden Land zwar, aber in einer DDR, die es gut mit den Ankömmlingen meint.

Ich frage Carmen über die Zeit vor der Flucht? Carmen sagt: „Wir mussten was machen!“ Das „machen“ bestand vor allem aus heimlichen Treffen. Aus der gegenseitigen Bestätigung, nicht allein zu sein. Das „machen“ hieß auch, Verfolgten zu helfen oder Flugblätter zu verteilen. Carmen übernimmt Kurierarbeiten, trägt Briefe, Dokumente, Geld von A nach B. Ihre Wohnung wird zum konspirativen Punkt. Bis ein Mitstreiter mit seinem zweijährigen Sohn verhaftet wird. Die DINA (chilenischer Geheimdienst) foltert das Kind. Der Mann hat keine Wahl und ist geständig. Carmen und ihr damaliger Ehemann sind „verbrannt“. Jetzt heißt es, Heimat, Eltern und Familie auf unbestimmte Zeit zu verlassen. Für die Flucht müssen sie sich trennen.

Bei der Arbeit, 1983 Foto: Rainer Weisflog

Zunächst kommt die junge Familie nach Eisenhüttenstadt. Es ist ein Sammelpunkt für Chilenen. Etwa 40 Erwachsene und 20 Kinder werden im Hotel „Lunik“ einquartiert, auf einer Etage, die via Fahrstuhl-Anzeige nicht existiert. Die Stasi prüft die einzelnen Personen. Die Interviews sind freundlich. Es gibt Kaffee und Kuchen. Ein pensionierter Lehrer gibt Deutsch-Unterricht. Nach einem Monat werden die Chilenen verteilt. Carmen kommt nach Cottbus. Die DDR zeigt sich beachtlich unbürokratisch. Es gibt möblierte Wohnungen im neuen Viertel Sachsendorf. Eine P2-Wohnung mit fließend-warmen Wasser, absoluter Luxus! Es gibt ein Ansprechbüro für Chilenen. Es gibt Aussicht auf Arbeit.

Welchen Eindruck machte Cottbus auf Carmen? „Die Leute waren sehr freundlich und hilfsbereit.“ Nur die Sprachbarriere galt es zu überwinden. „Ich wollte wissen, worüber die Cottbuser lachen und worüber sie weinen. Wenn ich das verstehe, dann spreche ich ihre Sprache!“ Carmen bekommt Arbeit als Raumpflegerin im Krankenhaus. Eigentlich als Mädchen für alles. In der Poliklinik herrscht akuter Personalmangel und Carmen hat was drauf. Sie hat tolle Kolleg*Innen, die ihr stetig Verantwortung zutragen. Sie lernt Deutsch im praktischen Leben. Irgendwann darf sie ihr Hebammen-Studium in Cottbus beenden und wird als solche im Krankenhaus angestellt. So kennen wir sie: Als Hebamme Carmen Gennermann, die gefühlt halb Cottbus auf die Welt gebracht hat.

Hausbesuch als Hebamme Foto: D. Ratthei

Viele Chilenen verlassen die DDR in den späten Achtzigern und der Wendezeit und gehen zurück in die Heimat. Die Zeit in der DDR wird allgemein als glücklich und dankbar beschrieben. Carmen bekommt 1988 ihr drittes Kind. Sie ist fest in Beruf, Familie und Cottbus eingebunden. Sie ist neugierig auf kommende Herausforderungen. Ein Rückgang fällt schwer. Beruflich geht sie 1991 ein Abenteuer ein und wird freiberufliche Hebamme. Mit dem Geburtshaus Forst findet sie den richtigen Partner – bis heute. Etwa 3200 Kinder hat sie im Laufe der Jahre entbunden. Menschliche oder gar politische Vorurteile gegenüber werdenden Eltern hat sie keine. „Die Tränen der Freude sind überall gleich. Man kann die Frauen bei der Geburt nicht alleine lassen!“

Daniel Ratthei

 

Mein Tipp: Lassen wir Carmen bei Ihrem Anliegen nicht allein. 2010 gründeten die verbliebenen Chilenen den Verein „Chile für die Welt Cottbus e.V.“ unter dem Vorsitz von Carmen Gennermann. Die alte Heimat kommt nicht zur Ruhe. Der ungebremste Neoliberalismus sorgte vor allem für die Privatisierung fast aller Lebensbereiche (Gesundheitswesen, Rente, Bildung, Miete…) und somit für horrende Lebenshaltungskosten. Die Folge: Soziale Ungleichheit und unerträgliche Armut breiter Bevölkerungsschichten. Corona verschärfte die Lage. „Hambre“ – Hunger, steht in leuchtenden Großbuchstaben auf einem Hochhaus im Zentrum von Santiago de Chile. Der Cottbuser Verein sammelt Geld für eine Suppenküche in Santiago/Elisa Correa. Der Mann vor Ort ist ein „Ex-Cottbuser“, das Vertrauen dementsprechend hoch. Jeder Betrag hilft. Das Spendenkonto lautet: Chile für die Welt Cottbus e.V. / DE39 1805 0000 3000 0640 35 / Verwendungszweck: Suppenküche

        

 

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