Chronist eines angekündigten Untergangs

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Im Domowina Verlag erschienen: Jurij Kochs „Gruben-Rand-Notizen”

Domowina Verlag. 192 Seiten. 16,90 EUR.

Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, in zwei aufeinanderfolgenden Heften zwei Bücher eines Lausitzer Schriftstellers zu besprechen. Nachdem Jurij Kochs jüdisch-sorbische Erzählung „Hana” bei  Hentrich & Hentrich Leipzig Berlin erschienen war, legt wenige Wochen später der Domowina Verlag Bautzen einen Band mit „Gruben-Rand-Notizen” vor. Ein Tagebuch, das der in Cottbus lebende Schriftsteller von 1996 an geführt hat. Die letzte veröffentlichte Eintragung stammt vom 31. Oktober 2009 und feiert den eben geborenen Enkel: „Willi trinkt und schläft und wächst und kackt sich in die Welt.” Ein versöhnlicher Schluss, nachdem der Autor wie ein Analyst und Visionär Welt und Gesellschaft nach Gewesenem und Kommendem ausgelotet hat.

Das kleine Lausitzer Dorf Horno steht im Mittelpunkt der Notizen. Auf dieses Thema kommt Jurij Koch immer wieder zurück. Als Chronist eines angekündigten Untergangs lässt er den Kampf der Dorfbewohner und ihrer Freunde und Sympathisanten nacherleben, die kleinen, euphorisch gefeierten Siege und den Schmerz einer jeden Niederlage. Und er deckt die Hintergründe der Leidensgeschichte der Gemeinde auf. Trotz sinkender Nachfrage nach dem fossilen Brennstoff ist alles darauf gerichtet, „Kohle” mit Kohle zu machen. Das trifft nicht nur Horno. Koch fährt auch nach Kausche und Lakoma. 132 Dörfer mussten in den letzten hundert Jahren dem Bergbau weichen. Von Lakoma trägt der Tagebuchschreiber eine symbolisch-makabere Episode ein. Jugendliche hatten Häuser besetzt. An eine Fassade hatten sie beschwörend Worte aus dem Grundgesetz geschrieben: „Der Staat schützt. . .” Die Bagger rückten an. Koch: „Schon mit dem ersten Stoß war ein Stück des Grundgesetzes umgestoßen. Dann bröckelten die Worte „Der Staat schützt”.

Aber es geht nicht nur um Horno. Als kritischer Autor nutzt er seine zehn Finger, um sie auf viele Wunden, sorbische wie deutsche,  zu legen. Da sind eine Schulschließung in Crostwitz, Umweltprofessoren, die einen Wald abholzen lassen, um dort eine Eigenheimsiedlung zu bauen; er kritisiert eine Politik, die sich selbst zur Lobby industrieller Interessen macht, und Medien, die diese Politik auch noch rechtfertigen. Was aber wichtig ist: Hier schreibt kein Wutbürger mit Schaum vorm Mund, sondern ein mitteilender Beobachter.

Immer wieder verweist Koch auf die Tagebücher Victor Klemperers, die er ein Kompendium nennt. Davon hat auch sein Tagebuch etwas durch seine Themenvielfalt. Der Leser erhält Einblicke in das literarische Schaffen, nimmt Anteil am Tod von Freunden, darunter Jan, der das Abbild für einen Protagonisten des Romans „Landung der Träume” gab. Er erfährt, worin sich Sorben und Helgoländer gleichen. Ein lebenspraller, kurzweiliger Lesestoff, der in reportagehafte Bemerkungen vom Ende von Horno mündet. Und dann kackt Willi.

Lektor Peter Thiemann hatte die dankenswerte Idee, dem Tagebuch Jurij Kochs Romanfragment „Die Flut” um einen Attentäter, Auszüge aus dem Essayband „Jubel und Schmerz der Mandelkrähe” und zwei wichtige Reden des Autors beizufügen, eine nahtlose Ergänzung der Tagebuch-Themen.

Klaus Wilke

 

Info

Buchpremiere mit Jurij Koch, Klaus Wilke (Moderation) und Matthias Kießling (Musik)

7.10. 2020, 19.00 Uhr, Archiv verschwundener Orte Horno/Rogow (Veranstaltungsort: Hornoer Krug, OT Horno/Rogow, An der Dorfaue 9, 03149 Forst)

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