Lutz Hillmann ist als Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in der Sorbenhauptstadt Bautzen beim steten Stadtgespräch
Untypisch typisch. Oder typisch untypisch? Lutz Hillmanns Weg ans Theater ist einerseits ossilike, andererseits heute schlicht unmöglich. Nun trotzt Bautzens Intendant dem Zeitgeist mit verbindlichem Volkstheater.
Der gebürtige Bischofswerdaer („Dort stand nur das Krankenhaus“) ist als Neukircher ein Kind der Oberlausitz, zog aber weit vor der Wende ins progressive Leipzig, wurde Klimatechniker an der Oper, ehe er Schauspiel studierte und noch als Student ans Dresdner Staatsschauspiel kam. Dort traf er als junger Schauspieler auf den etwas älteren Regisseur Michael Funke, der später in Bautzen sein langjähriger Oberspielleiter wurde. Mit einer Gruppe von vier Absolventen, darunter auch Arne Retzlaff, späterer Oberspielleiter am Theater Junge Generation, kam er 1985 ans Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen, wurde 1999 Intendant und spielt immer noch gern selbst mit.
Außerdem engagiert er sich immer wieder gegen jede Ausgrenzung, mit der Wählervereinigung Pegasus in der Stadtpolitik, saß selbst lange im Stadtrat und bescherte Sachsen voriges Jahr mit dem neunten das bisher rundeste und vollste Theatertreffen. Wir treffen uns zum Bautzener Stadtgespräch allerdings mitten in der Meißner Altstadt, wo er die Endproben für die Landesbühnen-Inszenierung „Die Vermessung der Welt“ nach dem Roman von Kehlmann leitet. Diese Spielzeit hat noch drei weitere große Premieren als Regisseur vor der Brust: Bukowskis „Birkenbiegen“ im November, die erste Uraufführung des neuen Theaterpreises „Lausitzen 2017“ mit Ralph Oehmes „Lausitzer Quartiere oder Der Russe im Keller“ im März 2018 und die große Sommerinszenierung „Die Olsenbande hebt ab“ auf dem Burghof für den 23. Lausitzer Theatersommer im Juno.
Der MDR meldet im Netz, dass Sie – ganz im Gegensatz zum Intendanten vom Ostberliner Friedrichstadtpalast – AfD-Wähler in Ihr Theater einladen…
Lutz Hillmann: Das ist typischer Schlagzeilenjournalismus! Es ging um einen diskreditierenden Kommentar zu unserer Premiere „Der Museum der Deutschen“, worauf mich der MDR anrief und ein längeres Interview mit mir führte. Sie können es gern komplett Nachhören, denn im Netz fehlt der entscheidende Halbsatz nach dem Komma. Denn wir laden Afd-Wähler ein, „um mit ihnen überhaupt ins Gespräch zu kommen.“ Das ist schon ein großer Unterschied, oder?
Selbstverständlich. Nur ist so ein Facebook-Kommentar eines AfD-Abgeordneten, der selbst gar nicht bei der Premiere war, doch aber eigentlich gar kein Thema?
Ich habe selbst privat darauf reagiert und geschrieben, dass es uns freut, dass er die Diskussion um das Thema damit befördert. Denn genau das ist die Frage: Was ist typisch Deutsch, was ist Sorbisch, was fremd? Darum geht es ja in der Inszenierung. Aber eigentlich schreibe ich nie auf Facebook, das war das erste Mal in zwei Jahren – und das hat jemand mitbekommen. Und parallel kam die Friedrichstadt-Palast-Geschichte, die den Vergleich zufällig auslöste. Es steht jedem Intendanten frei, sein Hausrecht auszuüben. Aber für uns kommt es nicht in Frage, irgendeinen Besucher auszuschließen, solange er sich interessiert.
Just am Nationalfeiertag mittels Performance das Verschwinden der Deutschen aus der Oberlausitz zu untersuchen, ist doch schon eine bewusste Setzung?
Ja, natürlich – aber mit langem Vorlauf. Die Leipziger Gruppe „friendly fire“ um Michael Wehren kam mit der Idee auf uns zu. Sie brauchten einen kompetenten Kooperationspartner – und wir wollten schon immer mal mittels einer freien Truppe und deren Arbeitsweise anderen Wind ins Ensemble bringen. Das passte also einfach gut zusammen.
Ein CDU-Landtagsabgeordneter war hingegen vor Ort – wie fand er es?
Gut. Dass er da war, hat auch damit zu tun, dass er Sorbe ist und sein Sohn mitspielt.
Elf Tage später ist schon Ihre nächste Premiere – diesmal in Regiefunktion bei „Die Vermessung der Welt“ nach Daniel Kehlmann. Diese hatten sie vor genau sieben Jahren schon einmal auf Manuel Schöbels Einladung – im Senatssaal der TU Bergakademie Freiberg. Haben Sie viel verändern müssen?
Es sind natürlich komplett andere Schauspieler und ein anderer Raum. An der Fassung haben wir damals schon einiges verändert – es ist ganz anders als die Göttinger Uraufführung: Bei uns gibt es Gauß und Humboldt als Rollen und Charakter, die Akteure haben Kostüme und kommentieren nicht nur, sondern haben was zu spielen.
Sie zitieren im Editorial Ihrer Theaterzeitung den Regisseur und Kulturpolitiker August Everding. Was kann man von ihm heute noch lernen?
Er war für uns junge Kollegen in seiner Zeit Präsident des deutschen Bühnenvereins und immer ein wichtiger Ansprechpartner mit offenem Ohr und wertvollen Tipps. Von ihm konnte man viel lernen, vor allem in Sachen Lobbyarbeit, auch in politischen Kreisen. Wie man sich mit allen politischen Ansichten auseinandersetzt, aber dennoch dabei Haltung, eigene Meinung und Abstand bewahren kann. Ich habe ihn als sehr sympathisch und charismatisch empfunden – einfach ein Typ, dem man nacheifern kann.
Sie zitieren ihn direkt damit: „Kultur ist keine Zutat, Kultur ist der Sauerstoff einer Nation.“ Sehen Sie derzeit oder in Zukunft Sauerstoffmangel?
Man merkt ja nicht, wenn der Sauerstoff langsam nachlässt – erst dann, wenn man zu ersticken droht, wird der Mangel bewusst. Kultur ist als Sauerstoff der Nation nötiger denn je, das muss man den Sparfüchsen immer wieder neu verdeutlichen, damit kein Mangel entsteht.
Dass wir jetzt in einer kritischen Phase sind, merkt man ja überall – nicht nur an den Wahlergebnissen. Die politischen Methoden und Konzepte funktionieren nicht mehr so recht. Daher wird in der Politik immer mehr auf bewährte dramatische Konzepte zurückgegriffen. Es wird ja regelrecht auf klassische politische Figurenkonstellationen zurückgegriffen.
Bewusst oder unbewusst?
Ich denke, eher unbewusst. Deshalb ist es wichtig, dass man wieder viel mehr auf Emotionalität und nicht auf Rationalität setzt. Sie erinnern sich sicher an Yasmina Rezas „Kunst“ – dort lässt sie ihren Protagonisten kurz vor Schluss sagen: „Nichts, was auf der Welt groß und wichtig gewesen ist, ist aus einem rationalen Gedanken entsprungen.“ Also: Nichts. Da kann man lange darüber nachdenken – aber sie hat sicher recht. Man kann den Menschen offenbar die Welt nicht nur wissenschaftlich oder rational erklären.
Aber wie sollte dann die Kunst reagieren, wenn die Politik sie adaptiert?
Na es gibt schon Theaterleute – wie Bernd Stegemann – die uns die aktuellen politischen Prozesse ganz gut erklären können. Vielleicht sind sie auch die einzigen, die anhand ihrer dramatischen Kenntnisse die Abläufe verstehen. Vor allem ihre clownesken Aufformungen. Ich war am Wochenende zu einem Puppenspielfestival in Bärenfels im Erzgebirge. Da gab es viele echte Kasperiaden, bei denen der Kasper alle unmöglichen Situation zu seinen Gunsten austestet – bei allen musste ich an die aktuelle Politik denken. Wir sind wieder in solch einer Situation, wo jeder denkt, er darf den Kasper spielen.
Das ist spannend. Wer spielt denn dann die anderen klassischen Rollen – wie Krokodil und Oma? Nur der Polizist ist klar besetzt…
Da müsste ich jetzt länger nachdenken. Bislang ist nur die Hauptrolle eindeutig besetzt.
Wenn die klassischen Dramen von der Politik adaptiert werden – was wäre denn aus Ihrer Sicht das Stück der Stunde?
Da kann man ruhig bei den Klassikern nachschauen. Klassiker sind vom Wesen her Stoffe, die unabhängig vom Zeitgeist oder den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen funktionieren und über Jahre und Jahrhunderte immer wieder zu neuen Ansätzen reizen.
Aber wie kann Aktuelles zum Bühnenereignis werden lassen?
Man kann kabarettistische Ansätze wählen, aber die helfen uns nicht weiter. Man sollte eher allegorische Ansätze oder Gleichnisse wählen – oder assoziative Ansätze, so wie wir das beim „Museum der Deutschen“ ja auch tun – und alles Kabarettartige weitestgehend aussparen.
Sie kennen das Bautzener Theater seit 1985 – 14 Jahre als Schauspieler, nun 18 Jahre als Intendant. Können Sie ganz kurz die wichtigsten Wandlungen skizzieren – die erste war sicher die Wende?
Ja, aber die ganze Wendezeit. Da hat sich das Bautzener Theater auch sehr engagiert – mit Stücken wie „Der Revisor oder Die Katze aus dem Sack“. Damals hatte Theater einen derartigen Stellenwert, dass man sich mit Theaterkarten als Tauschobjekt die Winterreifen für den Wartburg besorgen konnte. Das war schon eine neue und bleibt wohl auch eine einmalige Erfahrung.
Danach waren – zumindest in Dresden – die Theater ganz schnell leer…
Das war bei uns auch so. Die Leute hatten anderes im Kopf und mussten erst mal ihre Konsumbedürfnisse befriedigen. Außerdem ging die Funktion als Parallelwelt der Gleichnisse als gesellschaftliche Anspielungen ganz schnell flöten. Damit einher ging auch die Sensibilität des Publikums zurück, die gewohnten Reaktionen blieben aus. Heute verlangt der Zuschauer schon eher die dicke Kelle.
Was änderte sich noch?
Vieles. Die Verträge und die Anstellungsverhältnisse änderten sich. Das Anrecht war kein Grabsteinabo mehr. Das Ballett ist sofort abgewickelt worden. Das Orchester wurde erst mit dem das Sorbischen National-Ensemble zur Lausitzer Philharmonie fusioniert. Später dann – weil kein „sorbisches Geld“ für deutsche Musikpflege ausgegeben werden sollte – ist in einer Nacht- und Nebelaktion die Neue Lausitzer Philharmonie mit Teilen der Bautzener Musiker gegründet worden, deren Sitz als Briefkasten erst in Hoyerswerda hing. Später ging das Orchester – aus nachvollziehbaren Gründen – zurück ans Musiktheater Görlitz, was dort zu größten finanziellen Verwerfungen führt.
Sie sprechen oft von einer einzigen geglückten Fusion der deutschen Theatergeschichte – jene von Bautzen anno 1963 zum Deutsch-Sorbischen Volkstheater. Es gibt immer noch Leute, die fordern ein gemeinsames Oberlausitzer Theater mit drei Standorten in Bautzen, Görlitz und Zittau. Was sagen Sie denen heute?
Das geht mir wirklich auf die Nerven! Es ist einfach niemand in der Lage, mir irgendwo ein Modell für eine geglückte Fusion zu zeigen. Wenn das jemand schafft, dann mache ich vielleicht sogar mit. Aber allein aus Geldgründen heraus, hat das für Theater keinen Sinn. Fusionen dienen dazu, den Betriebszweck zu optimieren. Bei einer Nudelfabrik können sie vielleicht mehr oder billiger Nudeln herstellen, bei einer Schraubenfabrik Schrauben. Am Theater wird Kunst gemacht – das geht nicht schneller oder billiger in einem Theaterkombinat mit unterschiedlichen Standorten.
Demzufolge ist die Fusion an der Neiße zum gemeinsamen Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau von 2011 nicht erfolgreich?
Ich weiß es nicht genau, aber wenn man sich das sehr aktive, sehr fleißige und sehr erfolgreiche Schauspiel, was es ehemals war, heute anschaut, kommen Zweifel auf. Wer das als Erfolg bezeichnen will, verschließt die Augen. Nun ist das Schauspiel in einem großen Betrieb, wo Musiktheater und Orchester logischerweise dominieren, einfach die schwächere Sparte.
Dort gibt es Haustarif mit 15 Prozent Abschlag – sie zahlen hingegen in Bautzen Flächentarif?
Ja, das hat uns unser Träger, der Landkreis, zugesichert. Aber nur rund die Hälfte meiner Mitarbeiter sind im öffentlichen Dienst – dessen Tarifrecht natürlich nicht für Theater geeignet ist. Die anderen bekommen die mit dem Bühnenverein vereinbarten Grundgagen – der Rest ist frei verhandelbar. Das kann dazu führen, dass manche unserer Gehälter niedriger sind als die von vergleichbaren Künstlern mit Haustarifvertrag.
Sie haben ein recht stabiles und homogenes Ensemble – den Schauspielern gefällt es offenbar?
Die Stabilität rührt auch daher, dass wir einen Anteil an sorbischen oder sorbischsprachigen Schauspielern brauchen. Die wachsen nicht auf Bäumen, sondern sind das Ergebnis unserer langwierigen Nachwuchsförderung und der Elevenausbildung. Außerdem muss unser Ensemble immer so groß sein, dass zwei Inszenierungen gleichzeitig produziert werden können, sowohl im Schauspiel als auch im Puppentheater. Aber wir scheuen uns nicht vor der 15-Jahres-Grenze, die eine Festanstellung zur Folge hat und haben daher in Sachen Alter sogar ein sehr heterogenes Ensemble. Das heißt, wir besetzen auch Klassiker altersgemäß. Ich kenne genügend Theater im Jugendwahn, die das nicht mehr können. Ein 40-jähriger Nathan ist nicht immer konzeptionell passend. Es braucht auch Figuren mit Gewicht, die von Personen gespielt werden, die schon bisschen was erlebt haben.
Sie haben – haben neben Intendant und Regisseur – noch einen dritten Beruf: Sie spielen immer noch selbst?
Ja, weil es Spaß macht. Außerdem behält man so auch sein Haus besser im Blick – wenn man selbst in der Maske oder in der Garderobe sitzt, bekommt man Probleme mit, die sonst verborgen bleiben.
Sie haben an der Kasse große Erfolge – jährlich stabil über 150 000 Zuschauer. Teilweise doppelt so viele im Schauspiel Leipzig zu Hartmanns Zeiten – bei einer 14-mal kleineren Stadt. Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?
Es ist nicht mein, sondern unser Erfolg. Sie müssen aber anders rechnen: Hätten wir den gleichen Etat wie Leipzig, wären wir sicher bei über 200 000 Zuschauern pro Spielzeit. Die haben mehr als doppelt so viel wie wir! Wir hätten noch berühmtere Regisseure, mehr Geld für Marketing, für Stückrechte oder Auftragswerke oder Theaterpädagogik – was denken Sie, was hier los wäre?
Macht Sie das wütend?
Nein, es ist eher eine Herausforderung, zu zeigen: es geht auch mit weniger Geld und in einer anderen Region. Es war eher beschämend für Leipzig, aber unter Enrico Lübbe geht es dort ja jetzt wieder besser.
Gut, anders gefragt: Was könnte Leipzig von Ihnen lernen?
Das ist nicht vergleichbar: Leipzig ist Leipzig, Bautzen ist Bautzen. Es gibt dort mehr Einwohner, mehr Intellektuelle, ein anderes Bürgertum. Das ist auch eine Frage der Entstehung und Entwicklung der Theater aus dem Stolz seiner Bürger. Selbst Freiberg und Bautzen sind nicht vergleichbar, beide brauchen ihr eigenes Theater.
Wenn Sie ein Imagelabel für Ihr Theater erfinden müssten: Wie lautete dieses?
Deutsch-Sorbisches Volkstheater.
Interview und Titelfoto: Andreas Herrmann
Info
www.theater-bautzen.de