Mein Bücherbord – Buchtipps von Klaus Wilke

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Die Frau, die ein Baum sein wollte

Ich muss – selbst gegebener Befehl! – an dieser Stelle das ungewöhnlichste Buch vorstellen, das ich seit langem gelesen habe. Es heißt „Die Vegetarierin“. Seine Autorin ist die Südkoreanerin Han Kang (Aufbau, 190 Seiten, 18,95 EUR). Der Roman erzählt von einer verheirateten (ganz durchschnittlichen, „graumäusigen“, deshalb hat ihr Mann sie ausgewählt!) Frau, die nach einem Traum allen Fleischverzehr einstellt. Vegetarierin geworden, träumt sie davon, ein Baum zu werden. Ihr ganzes Leben zielt darauf, anders als andere zu sein mit Sex und Drogen. Das führt zu Unverständnis in der Umgebung, in die Psychiatrie, zur Absage an alles Lebensnotwendige. Das Abnorme schlägt den Leser in den Bann. Was transportiert diese Geschichte? Protest gegen die Männerwelt, Selbstbestimmung bis in einen absurden Tod hinein, Kritik an der Konsumgesellschaft? Gerade weil die Autorin keine Lösungen anbietet, rüttelt das Buch auf.

Die Werte, die der Gesellschaft zugrundeliegen und die sie auch aus dem Glauben bezieht, stehen in dem Roman „Loney“ von Andrew Michael Hurley (Ullstein, 384 Seiten, 22 EUR) zur Diskussion. Der britische Autor erzählt von einer kleinen Glaubensgemeinschaft, die sich auf dem Weg zu dem unheimlich erscheinenden Ort Loney macht. Dort soll Heilung des von Geburt an stummen Hanny gefunden werden. Wie Hurley die Mitglieder dieser Gruppe, gleichen Glaubens und tausenderlei konträrer Ansichten zeichnet, wie viel Atmosphärisches er einfängt, wie er Natur beschreibt, das ist ein Leseerlebnis. Er schreibt viel mehr, als er aufschreibt. Zwischen den Zeilen steht’s.

Nicht vor Erreichen der letzten Seite aus der Hand legen konnte ich „Die Nachtigall“ von Kristin Hannah (Rütten & Loening, 607 Seiten, 19,99 EUR). Das ist ein spannender Roman über die unterschiedlichen Wege zweier Schwestern an die Seite der französischen Resistancekämpfer gegen den Faschismus. Man zieht den Hut vor dem Mut dieser Frauen und wünschte sich, dass die sprachliche Gestaltung (ein Manko der Übersetzung?) mit den inhaltlichen Ideen Schritt hielten.

Der Planet Erde und die Gesellschaft – wer widerspricht da? – haben Wunden. Man braucht dafür keine Pflaster, der vielbeschäftigte Cottbuser Autor Hartmut Schatte hat stets die Finger drauf. Sein neuer Aphorismenband „Die Realität ist noch schlimmer als die Wirklichkeit“ (Regia, 80 Seiten, 15 EUR) strotzt vor bitterböser Menschlichkeit. Pervertierte Menschlichkeit – er greift sie an. Wer sie vertritt, den nimmt er nicht beim Wort, er bringt es ihm, schlägt es ihm um die Ohren. Und der wunderbare Illustrator Meinhard Bärmich (siehe auch unsere Rubrik „spot on“, Seite 4) setzt dann immer noch einen drauf. Buchpremiere: 18. Oktober, 18 Uhr, Hugendubel.

Klaus Wilke

Foto: Lesen in allen Situationen mit Klaus Wilke (TSPV)

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