Vögelpaarung mit Multikopter

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Das Sorbische National-Ensemble lebt den Strukturwandel mit Klimaschutz plus Tradition verwegen aus und geht neue Wege

Elster und Rabe sind bekanntlich jenes sorbische Traumpaar, welchem alljährlich in der Nacht vor dem 25. Januar per Vogelhochzeit als Brauch zu huldigen ist. Das Sorbische National-Ensemble, angetreten mit dem hehren Anspruch, die Kultur der beiden über verschiedene Wege in die Lausitz eingewanderten Volksstämme der Ober- wie Niedersorben vor allem per Pflege von Sprache, Kunst  und Bräuchen zu erhalten, stemmt zu diesem Ereignis jeweils zwei große Produktionen: eine Kinder- und eine Abendvogelhochzeit, jeweils mit ausgewieftem Tourneeplan. Das prägt eigentlich die ganze Spielzeit und trug nun, anno 2020, ganz neue Züge. Weit bevor ein Virus über die Welt schwappte und diese quasi total-global-klimaneutral lahmlegte.

Das diesjährige Ereignis für Erwachsene hieß „Wer wagt, gewinnt!“ und war nach der niedersorbischen Premiere und einer einwöchigen Probephase zur Umwandlung ins Obersorbische auch mehrfach mit anschließendem Tanz gekrönt – bei der Premiere in Radibor ebenso wie am Abend vor der Dernière im Mutterhaus Bautzen.

Dabei erwartet den nicht-indogenen Besucher – neben einem Hörgerät für die manchmal sogar sächsische Liveübersetzung – eine Aufführung, die sich normalen Vergleichen entzieht und aus externer Sichtweise durchaus in Güte wie Wirkung nur unvollständig zu beurteilen sein könnte. Es ist jedenfalls eine eigene Theaterform: Spiel, Tanz und Gesang mit Orchester, als Uraufführung verflochten mit einer Story, die versucht, aktuelle Ereignisse (selbst-)kritisch-witzig einzubringen. Also eine Mischform aus Musical und Volkstheater, mit kabarettistischen wie folkloristischen Einsprengseln. Vor allem geht es aber um den verbindenden Charakter, den Treffpunkt, das Wiedersehen als Tradition – und zwar über drei bis vier Generationen hinweg. Und über zwei Sprachen, deren Unterschiede oft wie jene von Polnisch zu Tschechisch beschrieben werden.

Dennoch ist Ganze auch für Deutsche urst unterhaltsam, nicht nur unter sozio- oder psychologischen Aspekten, sondern als Erlebnis einer Inszenierung, die natürlich die Frau wie Mann im Ohr nötig macht. Was dann (ähnlich wie bei Konferenzen) die recht zahlreichen Exoten im Saal kennzeichnet. Doch das bleibt, ob der schon vorher herrschenden Herzlichkeit gleich – die Geschichte, die immer per menschlicher Paarungsanalogie zum Elster-Rabe-Zielhöhepunkt, also einer sehr formidablen Volkstanzformation aller beteiligten Mitspielern, hier nach dem „Serbski katolski kwas“ vom Korla Awgust Kocor, führt.

Die gespielte Story, um Musik mit Solo- oder Chorgesang und/oder Tänzen ergänzt, wobei das Orchester unter Leitung von Andreas Pabst im Sorbischen National-Ensemble, der auch die Kompositionen und Arrangements der elf Musikstücke schuf, vor der Bühne auf dem Parkett und das Publikum auf Traversen erhöht und herkuleskeulenartig an Tischen mit Getränken sitzt, wirkt stringent und ist einfach wie linear gehalten: Töchterlein Johanna (Helena Büttner), immer wieder neu nur befristet beschäftigt, kommt übers Wochenende zum Chillen unerwartet nach Hause, der Papa (Peter Ziesch) kocht in Dynamo-Schürze Bratkartoffeln, die Mutter (Diana Ziesch) jammert ihr wegen mangelnder Enkel die Ohren voll.

Foto: SNE / Matthias Bulang

Halbe Mille per Schnapsidee für Strukturwandel

Da hilft nur ein Anruf beim „schönsten Mann im Saal“, dem Dirigenten höchstselbst – der auch noch rangeht und rasch ein Komplettpaket – Dresdner Semperoper samt Edelfiedler Rieu plus Übernachtung (mit Friseur, ohne Dynamo) – für die Oldies am Abend besorgt. Somit ist Bude sturmfrei, die drei Freundinnen  Andrea, Maria unsd Xenia (Sophie Heiduschka, Kristina Nerád und Susann Bartke, allesamt sonst blitzschnell im Chor integriert) können kommen, Vaters Champagner ist offen, für zehn Euro werden (nicht ganz jugendfrei) drei weitere harte Flaschen geleert und ein Film geguckt: sie selbst als die Ghostbuster-Girls bei der femenhaften Rettung des Bautzner Sorbenhauses, dem Domowina-Tempel.

Zuvor jedoch eine Zalando- plus Schnapsidee: die Beteiligung an einem jener derzeit überbordenden Wettbewerbe zur vermeintlichen Rettung der heimischen Industrie. Bei „Lausitz 2025“ reicht das trunkselige Damenquartett in einer Mischung aus Kauflust, Umweltbewusstsein und technischem Halbwissen eine wasserstoffbetriebenen Multikopter in Form eines umgekehrten Damenschuhs (Flying High Heals) ein – und gewänne damit die selbst behauptete halbe Million, falls sie zeitnah einen Prototypen als Modell hinbekommen.

Zum morgendlichen Kater kommt dann Beno (Ignac Wessela), ein großer Traumtyp mit Kettensäge, der mit dem Vater eigentlich Feuerholz machen wollte, aber nun verklemmt flirtet. Er bastelt den Prototyp, bekommt seine Belohnung – doch anders als man denkt. Denn nach zwei sehr spannenden Tanznummern (dem Fabriktanz und dem Schwarz-Weiß-Tanz), die sich, szenisch geschickt verwoben, vorn auf der Bühne leibhaftig und hinten als Film in durchaus modernen Kompositionen ergänzen, manifestiert einerseits die Produktion des Prototyps (von schlanken muskulösen Männern, oberkörperfrei in herrlich blauen Latzhosen), andererseits in Schwarzweißkostümen, die im Film genau konträr zu sehen sind, der Johannas Zweifel nach dem leichten Gewinn als Quasibetrug symbolisiert. Beides sehr eindrucksvoll – als Idee von Choreograph Kornel Kolembus und Ausstatter Jörg Jansing überaus gelungen.

Ebenso wie die ironische Vorführung des politischen Festaktes mit Staatssekretär (Auskenner wissen um Brangs „Wirken“ in der Lausitz), Bauamtsleiter Schlawinsky und lokalen Schmierenjournalist – von Andreas Hentzschel, Joachim Kubitz und Ludovit Matiaško kurz, aber prägnant illustriert.

Für Regisseur Marian Bulang, Schauspielstütze am Deutsch-Sorbischen Volkstheater, ist es nach 2010 und 2018 bereits die dritte Abendvogelhochzeit, die er beruhend auf das Libretto von Wito Böhmack spritzig-witzig inszeniert, wobei er dabei mit zehn Tänzern und 18 Choristen plus drei Gästen arbeitet und die ersten drei von insgesamt zwölf Vorstellungen (so auch die Premiere in Drachhausen) auf Niedersorbisch in der Niederlausitz anstanden und drei weitere (in Radibor, Crostwitz und Bautzen) in Tanzabenden endeten.

2020 überzeugt Ex-Volkstheater-Elevin Helena Büttner als schnoddrig-geradlinige Johanna, die durchaus Jugendjargon wagen darf, noch mehr als vor zwei Jahren, als sie als Pilotin auf erdumrundende “Spurensuche” ging, um dann selbst den Volltreffer zu landen. Heuer gönnt sich die Regieteam, das erstaunlicherweise (bei gewöhnlich 14 Monaten Vorlauf) noch keinen Auftrag für nächstes Jahr hat und die Stelle von Pabst gar inzwischen neu ausgeschrieben wurde, noch eine weitere Spitze: Sie werfen Xenia in die kräftigen Arme von Beno (“Ich will ein Kind von Dir”), während die wagemutige Johanna ihr geschäftliches wie privates Glück in Form von Investorin Marta, von Anna-Maria Bretschneider souvervän gespielt und beieindruckend gesungen, gewinnt. Starker Tobak für Katholen, bevor dann, inmitten der traditionellen Kostümparade samt Volkstanz aller Akteure, Megan Phillips und Michael Kotrus als Tanzpaar in einer Hebefigur die Hochzeit vollziehen und alle den ausdauernden Publikumsjubel genießen.

Danach war Pause angesagt, der gesamtsächsische Kulturkotau, der als Krankheit auch die Obersorben urst erwischte, war hier zwar als letztes zu bemerken, aber dauert nun mindestens bis 20. April. Ob die wirklich gefeierte Derniere von “Wer wagt, gewinnt”! der letzte päbstliche Auftritt in Bautzen war, steht in den Sternen weit nach Ostern. 

Andreas Herrmann

 Netzinfos: https://www.ansambl.de/

 

 

 

 

 

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