Wiedergelesen: Die Aula

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Weiß denn einer, der Kind des Computerzeitalters, der Ära von Smartphone, Facebook und WhatsApp ist, was man sich unter einer Schreibmaschine, einem Telegramm oder einer Depesche vorzustellen hat? Noch dunkler: Was ist eine ABF oder Arbeiter- und-Bauern-Fakultät?

Gemach, gemach, ihm geht es nicht anders als Robert Iswall und Gerd Trullesand, als sie 1949 vor der Tür des großen Festsaals einer Universität standen und in verschnörkelten Buchstaben das Wort „Aula“ lasen. Trullesand: „Aula. Kenne ich nicht. Aule kenne ich.“ Dann sind sie drinnen im Saal und trauen sich kaum aufzutreten. Iswall: „Hier kannst du doch nur mit einem Pferd reinreiten, Steigbügel aus Gold, und da vorne auf dem Thron sitzt die Königin und schmeißt mit Rosen nach dir.“ Das gefällt Trullesand, der das weiterspinnt: „Und dann linst du ihr von oben, von dein Ross, in den Ausschnitt…“

Die AulaDas ist – mit der verqueren Grammatik in der wörtlichen Rede – die erste lustige Episode, an die sich Robert Iswall, ehemals Kriegsgefangener, dann Elektriker, später Journalist, aus der Zeit an der ABF erinnert. Er sitzt, es ist mittlerweile 1962, an der Schreibmaschine (Computervorläufer, um Text auf Papier zu bringen), weil er per Depesche/Telegramm, einem eiligen postalischen Fernschreiben, den Auftrag erhalten hat, zum „Auslaufen“ der ABF eine Rede zu halten. „Auslaufen“ heißt Schließung, weil die ABF ihre Aufgabe erfüllt hatte, früher chancenlose junge Arbeiter und Bauern an das Abitur und ein Hochschulstudium heranzuführen. Junge Leute in einer Art Vorstudienanstalt – was für ein weites Feld für einen Schriftsteller, ein Land, sein Land zu porträtieren.

Hermann Kant (1926–2016) hat m. E. das Buch über die DDR geschrieben, über ihren antifaschistischen Gründungsmythos, über Lebens- und Aufbauplan, die dem traurigen und zerstörerischen Kriegsalltag folgten, aber auch über Dogmatismus, Bürokratie und Misstrauen, die die Träume vieler Menschen erstickten.

Mit seinem Personal Robert Iswall, Quasi Riek, Gerd Trullesand und Jakob Filter hat Kant „vier Musketiere“ auf den Bildungsweg geschickt, die ihre Gefechte mit den Waffen von Humor, Ironie und Satire austragen, den Blick auf tiefere Bedeutung aber nicht missen lassen. Aber wo ist denn dieser Quasi Riek am Ende geblieben? Im Westen, ja. Aber warum? Verrät sein Vorname „Quasi“ als Reimwort auf eine geheimnisvolle, oft sehr unfeine staatliche Institution den Grund seiner Abwanderung? Übrigens: Auch den Vergleich mit der „Feuerzangenbowle“ hält „Die Aula“ aus.

Klaus Wilke

Hermann Kant: Die Aula
Taschenbuch: 448 Seiten, Verlag Aufbau Taschenbuch, Auflage: 7 (1997), ISBN-10: 3746611903

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