Über den (fast) vergessenden Cottbuser Schriftsteller, Radio-Pionier, Kritiker, Germanisten, KZ-Überlebenden, Draufgänger, Emigranten, Genius…
Wer in Cottbus am Brandenburger Platz 6 vorbeischlendert, entdeckt am Gründerzeithaus eine Gedenktafel, die darauf hinweist, dass hier am 20. Juli 1899 ein gewisser Arno Schirokauer zur Welt kam. Gedenktafeln haben die Eigenschaft, dass sie leicht übersehen werden. Sie sind grau, sie verwittern, sie sind bescheiden still. Spenden wir der Erinnerung ein wenig Zeit, denn die Geschichte von Arno Schirokauer ist so faszinierend, das davon erzählt werden muss. Auch wenn er selbst schreibt:
„Nicht alle Menschen machen Geschichte (…). Nur was im Leben der Menschheit weiterwirkt, ist geschichtliche Wirklichkeit. Niemals ist Geschichte die bloße Summe all dessen, was geschieht. Nur was am rechten Platz und in der rechten Stunde geschieht, geschieht historisch. Von allen Worten, die im Erdraum schwirren, sind nur die Stichworte von historischem Wert, Worte, die so gesprochen werden, daß sie die Akteure bewegen und den Fortgang der Szene bewirken.“ (aus: „Der Weg zum Pol“)
Überlassen wir die historische Bedeutung Arno Schirokauers den Fachleuten und gehen zum Anfang der Geschichte. Tatsächlich. Das Stadtarchiv Cottbus hat seine Geburtsurkunde. Darauf steht in Sütterlinschrift folgendes:
„Vor dem Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach durch Eheschließungsbescheinigung anerkannt, der praktische Arzt Doctor Medicinae Moritz Schirokauer wohnhaft zu Cottbus, Kaiser Wilhelm Platz Nummer 6, mosaischer Religion, und zeigte an, das von der Luise Schirokauer geborenen Moses, seiner Ehefrau, mosaischer Religion, wohnhaft bei ihm, zu Cottbus in seiner Wohnung am zwanzigsten Juli des Jahres tausend acht hundert neunzig und neun, nachmittags um fünf Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches einen Vornamen, noch nicht, erhalten habe.“
Na sieh mal an. Das Ehepaar Schirokauer lässt sich mit der Namensfindung des kleinen Erdlings Zeit. Ein auf die Urkunde gekritzelter zweiter Eintrag vom 4. September, fast sieben Wochen später, gibt seinen Namen preis: Arnold Fritz Kurt. Er ist das Nesthäkchen der Familie. Mutter Luise brachte bereits fünf Kinder zur Welt. Zur Jahrhundertwende ist es nicht üblich ein Kind im Krankenhaus zu bekommen, im Gegenteil, eine Klinikgeburt ist sozial anrüchig. Nur Frauen die kein Geld oder etwas zu verbergen haben müssen ins städtische Spital. Religiös sind die Schirokauers nicht. Die Familie atmet den Geist der Wissenschaft. Vater Moritz ist Arzt und kennt das Leben. Alle paar Jahre ziehen sie um. Fast jedes der Kinder erblickt in einer anderen Stadt das Licht der Welt. Von Oberschlesien kommend, landen sie in der Lausitz. Hier bleiben sie. Cottbus wird zum Lebensmittelpunkt, wird Heimat.
„Der Vater war Landarzt und nahm seinen jüngsten Sohn oft mit, wenn er mit Pferd und Wagen oder Schlitten zu seinen Patienten in die umliegenden Dörfer fuhr.(…) Er war ein guter Arzt und bei Jung und Alt beliebt. Der Sohn war stolz auf den Vater. (…) Wenn Arnos Jugend auch keine ganz sorglose war, so hatte das Leben in der Kleinstadt doch viele Reize. Im Sommer gab es Rudern oder Kanufahren auf den vielen Armen der Spree, die den Wald durchzogen. Im Winter, sowie das Eis fest genug war, fröhliches Schlittschuhlaufen. Auf den Inseln, die die Wasserwege bildeten, lebte ein besonders gesunder Volksstamm – die Wenden, deren Frauen als „Ammen“ in besonders schönen Trachten im ganzen Land in wohlhabenden Familien die eigene Muttermilch ersetzten, wie es damals Mode war. Arno liebte sein Cottbus und machte öfters Pläne, es mir zu zeigen, aber es wurde niemals etwas daraus.“ (aus Erna Schirokauers „Erinnerungen“)
Der kleine Arnold, von allen Arno gerufen, interessiert sich für Musik und Literatur. Er besucht das städtische Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, die heutige Erich-Kästner-Grundschule in der Puschkinpromenade. Hier wird die Grundlage für das breite Spektrum seiner humanistischen Bildung gelegt, bis die Ereignisse sich überschlagen.
KRIEG! Knapp eine Woche nach Arnos fünfzehnten Geburtstag 1914 erklären sich die wichtigsten Staaten Europas den Krieg. Die preußische Erziehung und Propaganda trägt Früchte. Der Teenager Arno will, wie die meisten seiner Altersgenossen, „das Vaterland retten“. Er läuft heimlich weg, um freiwillig im großen Ganzen aufzugehen. Sein Vater holt ihn nach Hause zurück. Arno muss weiter die Schulbank drücken. Bald geschieht daheim die Katastrophe: Mutter Luise – in den letzten Jahren labil und morphinabhängig – stirbt im Mai 1916 mit nur 56 Jahren. 1917 legt der noch minderjährige Arno sein Not-Abitur ab – auch Kriegsabitur genannt. Den jungen Männern der Abschlussklassen werden die Prüfungen förmlich hinterhergeworfen. Sie sollen zügig zur Armee. Keine Hindernisse! Der Zeitgenosse und Dichter Carl Zuckmayer schrieb darüber:
„Für uns war das Ganze ein gewaltiger Spaß. Die Uniform gab auch dem schlechtesten Schüler noch einen Zug von Manneswürde, gegen die der Lehrer machtlos war. Es wurden uns nur die leichtesten Fragen gestellt, in denen keiner versagen konnte. Das Abitur, der Schreckenstraum vieler Jugendjahre, wurde zu einem Familienfest.“
Die Flieger-Asse Manfred von Richthofen, Ernst Udet oder Hermann Göring sind DIE Stars der Kaiserlichen Truppe. Der siebzehnjährige Arno aus Cottbus möchte einer von ihnen sein. Wo (und als was) genau Arno eingezogen, ausgebildet und eingesetzt wurde ist leider fast unmöglich zu recherchieren. Fakt ist: Er wird Pilot. Er fliegt an der Westfront. Er wird vom Himmel geholt und zwar „an jenem 29. 4. 18, als ich mit zerschossenem Becken und zerfetztem Gesicht bei Montdidier lag und mir meine Uniform mit meinem Blut verunreinigte…“.
Arno springt dem Tode von der Schippe. Sein späterer Germanistik-Professor Fritz Strich schrieb: „…und als er nach langem Siechtum genas, war die deutsche Revolution ausgebrochen… .“ Gemeint ist die Novemberrevolution 1918. Schirokauer liegt mehr als ein Jahr in Lazaretten. Sein rechtes Auge ist für immer verloren. Der kräftige, junge Körper, der zum Himmel emporstrebte und zur Musterung ein Tauglichkeitssiegel erhielt, existiert nicht mehr. Sein mit 54 Jahren viel zu früher Tod, findet im Abschuss von 1918 seine Empfängnis. Der hochintelligente Überflieger erleidet Bruchlandung. Es wird nicht das letzte Mal in seinem Leben sein, im Gegenteil: das wuchtige Einschlagen äußerer Umstände und die daraus resultierende 180 Grad-Wende seiner Lage wird zum roten Lebensfaden.
ABER: Arno Schirokauer ist ein Stehaufmännchen par excellence! Lesen Sie in der nächsten Ausgabe den zweiten Teil über die schwierigen Jahre der Nachkriegszeit, sein Aufstieg als Radiomann und Schriftsteller, und seine Lust sich mit Militaristen und Nazis anzulegen!
Daniel Ratthei