Bravo-Rufe und persönliche Preisträger

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Unsere Filmkritiker haben eine intensive und spannende Woche beim FilmFestival Cottbus hinter sich. Am Freitag Abend waren Daniel und Henning zu Gast bei Knut Elstermann und schilderten ihm ihre EIndrücke. Tolle Sendung, tolle Gespräche, tolle Texte! Wir sagen DANKE an Henning und Daniel.

Der „Bravo“-Rufer

Trüber Himmel über Cottbus, und Leonard Cohen ist gestorben. Da hilft nur gutes Kino! Im Gladhouse gibt es „Kuba in Shorts“. Von den sechs Filmen möchte ich wegen der Kürze nur vier erwähnen. In „Hunde“ wird soziale Ungleichheit in Kuba nur durch die Darstellung von eben Hunden verdeutlicht. Das Schoßhündchen, dem das flauschige Fell von Friseuren geschnitten wird auf der einen Seite, der abgezehrte, kranke Streuner am anderen Ende der Skala.
„Der Feind“ ist eine pfiffige Doku über eine Hygiene-Aufsicht in Havanna, die gegen die Dengue-Fieber übertragende Mücke kämpft. Das mühselige Ringen mit dem tödlichen Insekt, mit betrügerischen Mitarbeitern und Leuten, die die Vorsichtsmaßnahmen nicht einhalten, ist nur etwas für ganz Entschlossene. Mein Liebling im Programm.
In „Lorenza, das Radio und du“ sieht man in nur einer einzigen Einstellung Großmütterchen Lorenza, die ihren Radio-Sender sucht, aber immer wieder die falsche Station erwischt. Witzig! In „Die Nachtigall“ fährt ein kleiner Junge einen alten Greis im Rollstuhl durch Havanna. Sympathische, für mich etwas zu gefällige Skizze von Gabriel Reyes, der auch vor Ort war. Seine herzliche Dankesrede (mit viel corazón) hielt er auf Spanisch, dann ging das Interview ins Englische über. Er wurde gefragt, weshalb doch relativ wenig neue Filme aus Kuba kommen. Er sagt, dass die Filme von keiner der beiden Filmhochschulen in irgendeiner Weise gefördert werden, sodass jeder Regisseur erst einmal an Mitteln fehlt. Schade.
Danach wurde ein Kurzfilmprogramm aus Polen gezeigt. Ich beschränke mich mal auf einen: „Mutter“ zeigt eine Politikerin und Geschäftsfrau, die zwei Kinder hat. Der Sohn hat gerade ein junges Mädchen ermordet, kann sich aber an nichts erinnern. Die Tochter stimmt zu, bei der Vertuschung des Verbrechens zu helfen, wenn sie die Mehrheit an der mütterlichen Immobilien-Firma erhält. Auf dem Handy des Sohnes ist allerdings die Tötungsszene aufgezeichnet – auch eine Reminiszenz an Michael Hanekes „Bennys Video“. Die Mutter sieht die Aufnahme und muss ihren Sohn, ein Monster, anzeigen. Kino, das an die Nieren geht.
Im Obenkino gab’s für mich dann ein Wiedersehen mit „Havanna mi amor“ von Uli Gaulke. Nach sechzehn Jahren hat der Dokfilm nichts von seinem Charme verloren. Herzallerliebste Menschen, die mit größter Offenheit über ihr Leben, vor allem die Liebe und ihre Schwierigkeiten erzählen. Roter Faden des Films sind die Schwarz-Weiß-Fernseher aus der Sowjetunion, auf denen die Habaneros ihre geliebten Telenovelas verfolgen. Herz-Kino. Fast alle blieben, als Uli Gaulke anschließend über den Film erzählte.
Dann waren Daniel, mein Kritiker-Kollege, und ich im warmen Radio 1-Bus zum Interview. Knut Elstermann empfing uns prächtig aufgelegt und kredenzte einen Rum, den Gabriel Reyes („Die Nachtigall“) ihm kurz zuvor geschenkt hatte. Im Gespräch fragte er auch nach meinem Favoriten aus dem Wettbewerb. „The last Family“ aus Polen entgegnete ich spontan, und den fand der Moderator auch am besten. Da kann man auf die Preisverleihung nur gespannt sein!
Am Rum lag es aber nicht, dass ich mit dem letzten Film (im Wettbewerb) nicht so ganz warm wurde. Zum einen schürte die Erwähnung der Coen-Brüder im Programmheft vielleicht zu hohe Erwartungen, zum anderen gibt es auch immer eine gewisse Ungerechtigkeit nur durch die Reihenfolge der Filme. Bei den ersten zweien hat man oft genug Muße und Wohlwollen, sich auf ein gemächliches Tempo einzulassen; beim vierten denkt man schon mal „Schnitt!“. Der ins Donau-Delta verlegte Quasi-Western „Hunde“ aus Rumänien war so einer, der sich ganz schön viel Zeit ließ, um auf ein hundsgemeines Finale zuzugleiten. Aber: Es ist fast niemand aus dem Saal gegangen – und zumindest Landschaft und Musik waren großartig.

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Im Fokus Kuba steht zunächst „Hotel Nueva Isla“ auf dem Programm. Gezeigt wird ein alter Mann, der einen Traum hat: Die Ruine des Grand Hotels, in der er lebt, zu sanieren und wiederzueröffnen. Doch die Mitstreiter lassen ihn nach und nach im Stich, er kommt so gut wie gar nicht voran. Ein stiller Film über eine Vision, für die die Lebenszeit nicht reicht.
Es folgt „Casa Blanca“, eine polnische Koproduktion mit Mexiko und Kuba. Dokumentiert wird das Leben eines mongoliden Mannes, der mit seiner greisen Mutter in einem Fischerdorf lebt. Warmherzig und ganz behutsam nähert sich der Film seinen Figuren, beobachtet sie über Monate und zieht den Betrachter auf unwiderstehliche Weise in einen schwierigen Alltag hinein. Ergreifend, wie sich zwei helfen, die eigentlich selber Hilfe bräuchten. Falls jemand in der Vorstellung saß: der „Bravo“-Rufer war ich.
Vielleicht war dieser Film von Aleksandra Maciuszek auch so etwas wie die Quintessenz des diesjährigen Festivals: Eine aus der Reihe der ohnehin starken Polen beschäftigt sich mit dem Fokus-Land Kuba, das uns gute Filme und viel Gesprächsstoff geliefert hat. Die perfekte Synthese des allgemeinen Festival-Ansatzes und des speziellen Rubriken-Themas.
Dann fällt für mich der letzte Vorhang. Wie schade! Ich wäre so gern einmal in den Weltspiegel gegangen, das schönste Kino von Cottbus. Hätte so gern noch mehr Filme, vor allem die Empfehlungen der Kollegen angesehen. Ein gelungenes Festival! Tausend Dank an Heiko, den Chefredakteur des Magazins Herrmann, in dessen Riesenwohnung ich mich aufhalten konnte. Jedes Gespräch war mir ein Fest! Und ebenso lieben Dank an Anne von der Presse, die immer für mich da war!
Henning Rabe

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Mein persönlicher Preisträger des Festivals

Sind religiöse Extremisten im Grunde nur Kriminelle, die die Religion missbrauchen, um ihre Taten zu rechtfertigen? So sieht es der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy im Falle des islamistischen Terrors in Frankreich, den er als „islamisierte Radikalität“ versteht. Allerdings würde man dabei die Religion zu etwas stilisieren, das außerhalb der Menschen, die an sie glauben, existiert.
Man nimmt diejenigen, die in ihrem Namen handeln, nicht ernst, sondern weiß besser als sie, was der „wahre“ Kern der jeweiligen Religion sei. Diese Frage stellt sich auch bei dem Film „God’s Neighbors“ aus Israel.
Avi, ein junger und sehr frommer Jude aus Tel Aviv, patrouilliert mit seinen Freunden in der Nachbarschaft und wacht über die Einhaltung der religiösen Gebote. Es ist ein kraftvoller, zupackender Film, der dem Zuschauer den Atem raubt, wenn sich die Konflikte zwischen den selbsternannten Tugendwächtern und den Russen, die am Shabbat Musik hören und feiern, einem Shop-Inhaber, der am Shabbat geöffnet hat und den arabischen Jugendlichen, die laut Musik hörend mit ihrem SUV durchs Viertel fahren, zuspitzt. Mit und für ihre Religion leben sie, feiern sie, trinken sie, diskutieren in der Synagoge (etwas, das das Judentum wesentlich vom Islam unterscheidet), lassen ihre nationale Abstammung hinter sich – aber sie belästigen, drangsalieren und schlagen eben auch für ihre Religion. Diese eng miteinander verwobenen Motive der Religion sind im Film und in den überzeugend gestalteten Protagonisten stets präsent. Auch der soziale Hintergrund von Avi und Miri, die im Süden Tel Avivs leben, ist im Film dargestellt. Avi hilft im Gemüseladen seines Vaters aus. Miri arbeitet in einer Pizzeria. Alles Jobs, die schlecht bezahlt werden. Eine Situation in Israel, die viele Jugendliche und Heranwachsende betrifft und ein enormes Problem angesichts der hohen Preise darstellt. Durch Miri beginnt Avi seine Attitüde zu hinterfragen und sieht sich zwischen ihr und seinen Freunden hin und hergerissen, als plötzlich die arabischen Jugendlichen wieder auftauchen. Ein grandioser Film.
Daniel Riedel

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