Der 15. Längengrad Ost

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Eine Zeitreise nach Görlitz

Ohren auf, Hefte auf, mitschreiben! Weiß noch jemand, wie das war mit den Längen -und Breitengraden? Oder mit dem Nullmeridian? Greenwich? Zeitzonen? Nix konkretes? Irgendwie schon mal gehört? Aha, hier vorne melden sich Klaus und Henriette, das habe ich von euch erwartet, danke, aber ihr könnt die Hände wieder runter nehmen. Ich frage in den hinteren Bankreihen nach, da ist es plötzlich so still… Udo? Matthias? Josefine? Nichts? Niemand? Ein paar Brocken gefährliches Halbwissen? Da bin ich als Aushilfslehrer auch weit vorne… Mitteleuropäische Zeit, das ist doch ein Begriff? Das tippt ihr stets im neuen Handy ein, wenn ihr es konfiguriert. Bitte Ruhe jetzt, sonst muss ich einen Vermerk im Hausaufgabenheft notieren! Also:

Früher hatte jeder Ort auf der Welt seine eigene Zeit. Man schaute hoch in den Himmel und richtete sich nach der Sonne. Mit der Entdeckung, dass die Erde rund ist – mit dieser These sind ja bis heute noch nicht alle einverstanden, Stichwort: Flache Erde – kam die Einteilung der Kugel in geographische Längen und Breiten hinzu. Der Äquator ist der mittelste und größte Breitenkreis, er unterteilt die Erde in Nord und Südhalbkugel und hat die Breite Null Grad. Beim Längengrad allerdings gab es keine natürliche Nullmarke. Seine Festlegung war willkürlich. Wo sollte man nur anfangen eine gedachte Linie vom Nordpol zum Südpol zu ziehen, von dem für alle Tage aus die geografische Länge nach Osten und Westen gezählt wird? Hier konnte das britische Empire weiter helfen: „Bei uns, of course!“ Im Jahre 1884 wurde auf der Internationalen Meridiankonferenz der Nullmeridian in der Meridianebene der Londoner Sternwarte Greenwich festgelegt. Richtigerweise empfohlen. Denn viele Länder hatten ihre eigenen Nullmeridiane, die durch die jeweiligen Hauptstädte oder bestimmte Sternwarten führten.

Immer an der Neiße entlang…

Ein spannender Aspekt bei der Entwicklung unserer Zeitzonen ist die Entwicklung der Eisenbahn. Das moderne, schnelle Dampfross zeigte schnell die Grenzen der Vielzeiterei auf. Die Ankunftszeiten passten einfach nicht mit den örtlichen Uhren überein. Ich weiß, an diesem Punkt kann man sich einen Witz über die Deutsche Bahn nicht verkneifen. Das wäre ja heute noch so, da hätte sich ja nicht viel verändert, geschenkt. Aber damals führte jenes Wirrwarr durchaus zu Zugkollisionen und an Grenzorten, wie am Bodensee mit seinen fünf Anrainerstaaten, galten an einem einzigen Bahnhof fünf unterschiedliche Zeiten.

Dieses Kuddelmuddel musste auch im Deutschen Kaiserreich ein Ende haben und so schloss man sich nach heftigen Diskussionen dem Ergebnis der Internationalen Konferenz von 1884 an, welches neben dem Greenwich-Meridian, auch ein weltweites Zeitsystem aus 24 Zeitzonen festsetzte. Am 1. April 1893 trat das Gesetz betreffend einer einheitlichen Zeitbestimmung in Berlin in Kraft. Die Mitteleuropäische Zeit wurde für das gesamte Deutsche Reich als Einheitszeit bestimmt. Der dafür entscheidende 15. Längengrad Ost durchquerte die Stadt Görlitz. Bei der Einführung sprach man deshalb auch von der Görlitzer Zeit. Na, schau einer an. Deutschland tickt nach den Uhren unserer wunderschönen Neiße-Stadt (und achtzig Prozent aller europäischen Staaten auch).

Anlässlich des legendären ersten Weltraumflugs von Juri Gagarin wurde 1961 in unmittelbarer Nähe der Stadthalle ein Meridiandenkmal errichtet. Der Meridianstein besteht aus Lausitzer Granit und wiegt ordentliche 1150 Kilogramm. Bei der bekannten Görlitzer Kriminal-Autorin Eveline Schulze lesen wir folgendes: „Der Stein von Carl Däunert war am 6. Mai enthüllt worden, Juri Gagarin am 12. April in den Kosmos geflogen. So schnell war selbst ein Görlitzer Steinmetz nicht, dass er binnen vier Wochen aus einem Felsklotz eine Weltkugel hätte hauen können. Die Widmung erfolgte also postum, wogegen nichts zu sagen ist: Viele andere Kunstwerke leben auch mit ihren Legenden.“ (Aus: Die Tote auf den Gleisen/Verlag: Das Neue Berlin)

Der Meridianstein
Da kann man sich das schönste Motiv aussuchen

Die Legende geht noch weiter: Ein paar Meter neben dem Stein wurde 2011 auf der Straße zur Stadtbrücke die Meridianlinie mit blauer Farbe markiert und eine Infotafel angebracht. Die Farbe, inzwischen recht verblasst, und der Standort des Gedenksteins sind aber nicht exakt. Nach heutigen Messverfahren verläuft der 15. Längengrad Ost etwa 137 Meter entfernt, in den Neißewiesen unterhalb der Stadthalle. Alles in allem gibt es ordentlich was zum Klugscheißen, sollte man mit Freunden oder Familie einmal in Görlitz den Meridianstein besichtigen. Es ist nicht so, dass die Neißestadt ihren Touristen das Denkmal förmlich unter die

 Nase hält, man muss es schon suchen. Am besten läuft man am Neißefluss von der einen Brücke zur anderen Brücke. Wer die schöne, alte Stadthalle sieht, die im Sanierungsprozess steht, der ist schon ganz nah dran.

Daniel Ratthei

Mein Tipp: Görliwood hat so viel zu bieten, wo anfangen? Auf der Webseite der Stadt gibt es eine Broschüre mit dem Titel: „20 Gründe für Görlitz“. Einfach mit der Bahn hinfahren. Uhrenvergleich, und los geht`s.     

 

 

 

  

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