Freitag, FFC17
Zum Auftakt im Gladhouse „Mein Fleisch und Blut“ von Marcin Wrona aus Polen.
Ein in seinem Stall entlassener Boxer sieht in der Straßenbahn eine junge Vietnamesin und verfolgt sie. Fragt, ob sie nicht sein Kind haben wolle. Überraschend schnell werden sie tatsächlich ein Paar. (Bitte nicht, dachten mutmaßlich alle im Saal.) Sie wird schwanger, das Kind ist aber nicht von ihm, sondern von einem vietnamesischen Vorgänger.
Er möchte es trotzdem mit ihr aufziehen. Als er erfährt, dass er an den Spätfolgen seiner Kampfverletzungen sterben wird, bittet er einen Nebenbuhler, sie zu heiraten und „seinen“ Sohn aufzuziehen.
Solides, mitunter ein bisschen grobgestricktes Realismus-Kino.
Der Wind auf der Straße der Jugend ist ziemlich beißend geworden. Schalpflicht. Weiter geht es mit einem Vierer-Programm im Focus:
„Die Kleine“ ist ein Animationsfilm von Diana Cam Van Nguyen aus Prag. Schlicht, aber wirkungsvoll erzählt sie, wie sie mit zwanzigjährig mit der kleinen Schwester in der neuen Heimat blieb, während die Eltern nach Vietnam zurückflogen.
„Hanoi-Warschau“ Unter schauderhaften Umständen gelangt eine junge Vietnamesin illegal nach Polen. Sie kommt durch die Hilfe einer jungen Frau weiter. Doch, um ihren Liebsten wiederzusehen, der beim Grenzübertritt verhaftet wurde, stellt sie sich und wird eingesperrt. Das Wiedersehen mit der großen Liebe bringt eine große Enttäuschung …
Emotionales Kino auf Höchstniveau, Regie: Katarzyna Klemkiewicz.
Nach Berlin mit „A Promised Rose Garden“. Ein illegal eingereistes Vietnamesen-Paar. Er verkauft für einen mafiösen Boss Zigarretten, seine Freundin ist eine Art Stubenmädchen bei seiner kalten, neurotischen Ehefrau. Die beiden sparen Geld zusammen und bekommen bald gefälschte Pässe, doch die Gattin stiehlt ihnen alles … Regisseurin Lisa Violetta Gass gönnt uns zum Ende jedoch einen Lichtblick, den Rosengarten haben sich die beiden abgeschminkt, vorwärts wird mit ihnen trotzdem gehen.
Wieder aus Polen kommt „Der kleine Finger“ (Tomasz Cichon). Drei junge Gangster kommen in ein vietnamesisches Restaurant und beleidigen einen alten Vietnamesen, der regungslos in der Ecke sitzt. Sie ziehen an seinem Bart und gießen Tee in seinen Schritt. Kann ja nichts passieren. Dann stehen plötzlich fünf Kampfsport-Vietnamesen von der ganz finsteren Sorte im Speiseraum. Der Alte stellt das Ultimatum: In fünfzehn Minuten haben die Kleinganoven einem von ihnen einen Finger abgeschnitten oder jeder von ihnen verliert zwei …
An amerikanischen Genre-Vorbildern geschult, fluffig und unterhaltsam.
Ungewöhnlich wird es dann in der Kammerbühne. „Chronotopos“ ist ein loser Reigen aus elf Kurzfilmen, den das gleichnamige Künstlerkollektiv aus Belorussland kreiert hat. Ich überlege eine Weile, ob mich das überhaupt an irgendetwas erinnert und fühle mich dann (gleichwohl fern) an Undergroundfilme aus den 80ern erinnert. Super 8-Streifen aus Moskau, Leningrad und Ostberlin.
Es ging und geht auch hier nicht darum, gute Filme zu machen; waren sie als solche auch nicht unbedingt. Es geht hier darum, dass Filme ein Mittel sind, ein Anderssein auszudrücken, einen Weg im Abseits zu suchen. Und deswegen kann ich (Glücklicher) sagen, dass ich so etwas noch nie gesehen habe.
Ein Kurzfilmbeispiel: Ein junger Mann kommt in ein leeres Dorf. Feen rufen und necken ihn, Hände steigen aus dem Boden. Er geht in ein Haus, um Antiquarisches in Besitz zu bringen, doch ein Hausgeist (nur ein stark geschminktes Gesicht) vertreibt ihn. Auf einer Wiese isst er einen Apfel. Daraufhin rollt er, Gedichte rezitierend, in Zuckungen über die Wiese, während in den Zwischenschnitten Milch über Birkenstämme fließt.
Das ist zwar keineswegs einleuchtend, phänomenologisch aber ein ganz starkes Stück. Weil man sich hier auf keine einzige andere Gegenkultur bezieht, sondern eine eigene erschafft.
Der Initiator der Gruppe, Andrei Kudinenka, zuckt auf die Frage, ob es wegen der bizarren Filme keine Probleme für sie gibt, nur die Achseln. „Der Staat ist der Staat, und wir sind wir.“ Ohnehin antwortet er gar nicht so gern auf die Fragen: Vielleicht gar ist ihm dieses Festival schon zu mainstream.
Dann dürfen die drei Hermann-Kritiker sich in der Radio Eins-Lounge bei Knut Elstermann einfinden. Das Stelldichein bei dem unglaublich sympathischen Moderator ist immer ein Highlight. Beglückt gehe ich dann noch in die lange Nacht der kurzen Filme (Part 2). Die wird wirklich lang. Der Artikel soll es nicht werden. Deshalb sage ich nur: Der Beitrag „Soa“ aus Montenegro, in dem ein einsamer Mann mit einem einzigen Schaf durch die wundervoll aufgenommenen Berge zieht, wäre mein Favorit für die Kurzfilm-Lubina.
Henning Rabe
Bilder:
Das blaue Band vorm Gladhouse.
Andrei Kudinenka, Belorussland.
Diana Cam Van Nguyen aus Prag. Alle Fotos: Henning Rabe