hermann- und radioeins-Filmkritiker berichten vom 27. FilmFestival Cottbus

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Donnerstag, FFC17

Während ein Wolkenschleier bleiern über der Lausitz liegt, wird im Gladhouse ein vietnamesisches Feuerwerk abgebrannt. Ein Vierer-Programm, in dem die Kinder der vietnamesischen Migranten (in Deutschland und Tschechien) sich zu Wort melden. Hochinteressant wie die Regisseure ihr eigenes (Er)leben als Ausgangspunkt verwerten.
„Obst und Gemüse“ spielt in Berlin. Der konservative Vater des Regisseurs Duc Ngo Noc prallt hier auf den Bilderbuch-Proll Harry, der im Laden des Vaters anheuert. Gerade die rustikale Sprache des Sternburg-Kettensäufers und das spröde Wesen der beiden Charaktere macht ihre Annäherung so rührend.
In „Der Garten meines Vaters“ lernen wir einen stillen Sino-Vietnamesen kennen, der einst auf See von der „Cap Anamur“ gerettet wurde. Mit den chinesischen Kräutern, die er pflanzt, holt er sich ein wenig Heimat in sein Leben.

Regisseur Dužan Duong
Regisseur Dužan Duong heißt Mat Goc im gleichnamigen Film. Er ist Hip Hopper. Ihn interessieren nur krasse Steps und fette Moves, Vietnam hingegen so gar nicht. Als er hinfahren muss, versteht er nicht einmal, was die Verwandten reden. Und es ist so öde! Doch das Blatt soll sich wenden …
Im letzten Film ebenfalls ziemlich bunte Streiflichter auf junge Vietnamesen, die in Prag gerade Karriere machen; ein Model, ein App-Entwickler und ein Hip Hop-Dancer (wieder Dužan Duong). Sie sind die „V. I. P. – Vietnamese Important People“.
Bei diesen Shorties sind Dramaturgie und Montage manchmal etwas holprig – das schadet aber überhaupt nichts. Frech und originell wird hier so auf die Pauke gehauen, dass der frische Wind sich prompt aufs Publikum überträgt.
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Dann gibt es ein Wiedersehen mit den Beksinskis! Wer letztes Jahr „The Last Family“ aus Polen gesehen hat, weiß sofort bescheid: Es geht um den Asperger-verdächtigen Maler Zdzislaw und seinen von schweren Depressionen heimgesuchten Sohn. Zum Spielfilm von 2016 gibt es heute als Komplimentär-Programm die Doku „Die Beksinskis. Ein Ton- und Bilderalbum“, die fast ausschließlich aus den originalen Super 8-Aufnahmen des Malers – des Bosch oder auch Giger des Sozialismus – besteht.
Szenenbeispiele gefällig? Der Sohn sagt: „Nein, wenn ich selber bei mir koche, muss ich ja doch fünfzig Mal durch das ganze Wohngebiet zu euch rennen.“ Die Mutter: „Warum?“ Der Sohn: „Na, weil ich keine Zutaten hab.“ – Er konnte als Erwachsener nicht einkaufen!
Oder der Vater sagt zu ihm: „Du bist wirklich eine Last für mich. Versteh mich nicht falsch. Ich meine die Kosten, allein das Bigos (Sauerkrauttopf), das du hier immer isst.“
Bei der Fülle an Material (die Laufzeit der Amateurbänder beträgt Wochen) ein in der Kürze trotzdem nichts aussparendes und ergreifendes Kaleidoskop zu fertigen, ist eine ganz starke Leistung.

Im belorussischen Dreier-Programm geht es um Grenzen. „Druja“ porträtiert in kunstvollen Bildern die Kirche der gleichnamigen Stadt an der Grenze zu Lettland. Deren Bewohner fahren in „Die Milchinsel“ mit dem Ruderboot einfach auf eine lettische Insel – damit über die Grenze zur EU –, um die herrenlosen Kühe dort zu melken.
Schwerer haben es da die Belorussen in „Die Grenze von Norviliskes“, deren Dorf durch eine willkürliche Grenzziehung 1939 nun zu Litauen gehört. Diese Grenze ist gut geschützt, Übertritte bei drakonischen Strafen verboten. Familienmitglieder können sich nur über den Zaun unterhalten, die Visaprozeduren sind umständlich und kostspielig.

Co-Drehbuchautor Arevshatjan

Wir erleben den Alltag der isolierten Handvoll Landbewohner, die nicht einmal Litauisch beherrschen. Sehen den Wechsel der Jahreszeiten, Probleme und viel Ödnis. Einige Zuschauer gehen. Aber je länger eigentlich gar nicht passiert, je eindeutiger die Gespräche (ob bei minus 30 Grad oder Frühlingssonne in einem spartanischen Zimmer) um die vermaledeite Grenze kreisen, umso deutlicher wird die Situation der Abgeschnittenen spürbar – und erfahrbar. Langsam, intim, spätwirkend.

Zu später Stunde gibt es noch „Good Morning“ von Anna Arevshatjan aus Armenien. Der Film möchte alle Tragödien des armenischen Volkes – den Genozid 1915, den Bürgerkrieg mit Aserbaidschan um die Region Nagorny Karabach und die Massenflucht aus der Heimat in diesem Jahrhundert – unter einen Hut bringen. Und erreicht bei mir damit emotional leider gar nichts. Zuviel wird über Dialoge transportiert, wird plakativ und überbetont. Der erzkonventionelle Einsatz der Musik tut ein Übriges, das ist Spielberg hoch drei.
Sehr schön allerdings ist bei aller politisierenden Plattitüde die Geschichte eines kleinen (umwerfend gespielten) Jungen, den in den Zeiten der Not und des Kriegs (um 1993) in Jerewan seine erste Liebe zu einem gefühlt doppelt so großen Mädchen verwirrt. Da wird auch dick aufgetragen, aber es fühlt sich lebendig an und hat Charme.
Der Film, dem man „hundert pro ansehen konnte“, dass er von geldträchtigen Geldgebern und vor allem dem armenischen Staatsfernsehen unterstützt wurde, entpuppt sich im Publikumsgespräch mit dem Bruder der Regisseurin als eine Produktion, die sehr mühsam mit privaten Mitteln aufgestellt wurde. Da habe ich plötzlich ein schlechtes Gewissen für meine herben Gedanken. Trotzdem, dabei bleibe ich, ist weniger manchmal eben doch mehr!
Henning Rabe

Fotos: Henning Rabe

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