Die allgemein akzeptierte Idiotie

GRM

Kiepenheuer & Witsch, 634 Seiten, 25 EUR

Das ist das totale Wahnsinnsbuch, das dich nicht schlafen lässt: „GRM” (Kiepenheuer & Witsch, 634 Seiten, 25 EUR) von Sibylle Berg. Du legst es nicht aus der Hand, weil es beunruhigt und du denkst, was da drin steht, kann dich irgendwann selbst betreffen. Es ist ganz gegenwärtig, denkst du, und dann wieder, dass das Buch in der nahen Zukunft spielt und eine bösartige Satire ist. Das Buch ist wohl beides und zeigt, dass Gegenwart und Zukunft in unserer schnelllebigen Zeit kaum noch zu trennen sind. „GRM” steht für Grime, einen genialen manipulativen Musikstil, der in einen Rausch versetzt und den Alltag bestimmt, von allem ablenkt, was gesellschaftliches Ärgernis oder im Sinne sozialer Interessen ist. Es ist Lebensmittel in einer Gesellschaft, die todgefährlich versehrt, von Gewalt, Drogen, Kindesmissbrauch, Frauenfeindlichkeit, Fremdenhass gezeichnet ist. All diese Themen handelt Sibylle Berg an vier Kinderschicksalen nach Vollzug des Brexit ab.

Das nächste Buch hat seine eigene Geschichte. Günter Kunert, einer der interessantesten Gedichteschreiber der DDR, 1979 in den Westen ausgereist, jetzt 90 Jahre alt, hat vor 45 Jahren einen Roman für den Schubkasten geschrieben. Er wusste, dass er ihn in der DDR niemals würde veröffentlichen können. Vor drei Jahren hat er ihn wiedergefunden. Nun ist er erschienen: „Die zweite Frau”

Die zweite Frau

Wallstein, 204 Seiten, 20 EUR

(Wallstein, 204 Seiten, 20 EUR). Ein locker geschriebenes, heiteres Lästerwerk auf Stasi und Parteibürokratie. Der Held heißt Barthold. Gleich zu Beginn trifft er auf Walter Ulbricht. Der ist angetan von ihm, weil er missversteht, dass er dem Bart hold ist Dabei ulkt das ganze Land über Ulbrichts Spitzbart. Die Stasi ist Barthold wegen Westkontakten auf den Fersen. Er hat Verbindungen zu einem gewissen Montaigne. Die dummen Stasileute wissen nicht, dass der längst tot ist, ein französischer Philosoph, der von 1533 bis 1592 lebte. Der Roman zieht über viele Ungereimtheiten, Unfug und Unvermögen der Herrschenden und die Anpassung her – „die allgemein akzeptierte Idiotie”.

„Madame Piaf und das Ende der Liebe” von Michelle Marly (Rütten & Loening, 430 Seiten, 12,99 EUR) ist ein großer Künstler- und Liebesroman vor dem politischen Hintergrund der Nazibesatzung von Paris. Edith Piaf (1915 bis 1963) war eine weltberühmte Chansonette, die durch Missgunst in den Ruch der Kollaboration mit den Nazis geriet. Sie konnte glücklicherweise den Gegenbeweis antreten. Zeitlebens litt sie unter schwierigen Familienverhältnissen. Sie liebte und förderte Yves Montand, eine Liebe, die beider künstlerisches Vermögen förderte. Michelle Marly hat mit Fakten und Fiktion ein schönes Kunstwerk zur Unterhaltung geschaffen.

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Eulenspiegel, 128 Seiten, 9,99 EUR

Es ist Fontane-Jahr, kaum zu übersehen, wenn man eine Buchhandlung betritt. Irgendwo findet man ein Tischchen, ein Regal oder Eckchen, die den großen Märker mit neuen Büchern anlässlich seines 200. Geburtstages feiern. Ein kleines Bändchen soll hier hervorgehoben werden. Der Schauspieler Gunter Schoß hat es aus Briefen, Tagebüchern, Lebenszeugnissen und Erinnerungen von Zeitgenossen zusammengestellt: Theodor Fontane. Ein Lebensbild in Anekdoten (Eulenspiegel, 128 Seiten, 9,99 EUR). Da ist viel Heiteres aus oftmals nicht so heiteren Zeiten. Wem die großen Biografien, die dem Dichter zurzeit huldigen, zu schwer an Gewicht und Anspruch sind, der erfährt auch hier eine ganze Menge über den Dichter, so dass er ein bisschen mitreden kann. Und er erhält eine Maxime Fontanes hinzu, die Gunter Schoß im Geleitwort zitiert: „Sei heiter! Es ist gescheiter. . .”

Klaus Wilke

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