Mein Bücherbord

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„Entweder ist Europa am Arsch oder…”

Aufbau, 830 Seiten, 26 EUR

 Auf vier Wahnsinnsbücher will ich an dieser Stelle aufmerksam machen – Weihnachtsgeschenke für Menschen, die keinen Horror vor dicken und anspruchsvollen Büchern haben. Wahnsinn 1 ist „Der eiserne Gustav” (Aufbau, 830 Seiten, 26 EUR). Ein fabelhafter Familienroman, eine Art Buddenbrooks in der Weimarer Republik, nur viel spannender. Gustav Hartmann (im Roman Hackendahl) reist 1928 mit einer Pferdedroschke von Berlin nach Paris. Eine Sensation, die auf das Ende seines Berufsstandes hinweisen soll. In einem Essay kennzeichnet Fallada-Biografin Jenny William die Verfälschungen des 1938 erschienen Romans durch die Nazis und in der DDR. Das Buch liegt nun erstmals in Originalfassung vor.

Salman Rushdies Roman „Quichotte” (C. Bertelsmann, 460 Seiten, 25 EUR) bekommt

C. Bertelsmann, 460 Seiten, 25 EUR

von mir die zweite Wahnsinnsplakette angeheftet. Mir imponiert, wie der Autor den von Cervantes ausgeborgten Titelhelden durch das gegenwärtige Amerika reisen und sich an allen Ungehörigkeiten, Unmöglichkeiten, Unzulänglichkeiten reiben lässt. Wie der bisher bekannte Quichotte ein Freund uralter Ritterromane ist, zelebriert der neue das Fernsehen als regelrechte Messe, indem er sich alles reinzieht, was sichtbar wird. Wie der alte der fiktiven Dulcinea folgte, jagt der von Rushdie Salma R., einem Fernsehstar, hinterher. All das liest sich so weg, wenn man sich auf die Eigenarten des magischen Realismus, Marke Rushdie, einlässt, der laufend Realität und Fantasie vermischt.

Heyne, 414 Seiten, 22 EUR

„Der zweite Schlaf” (Heyne, 414 Seiten, 22 EUR) führt sich als vermeintlicher Mittelalterroman ein – spannendes Täuschungsmanöver – und erweist sich bald als eine düstere Dystopie unserer Zukunft. Was als Mittelalter erscheint, ist der Zustand der Welt, wie die Menschheit ihn 2025 herbeigeführt hat und wie er noch nach Hunderten von Jahren besteht. Diesen spannenden Lesewahnsinn verdanken wir Robert Harris, der auf Erscheinungen aufmerksam macht, die unsere Zivilisation bedrohen.

Ein Spionageroman, der „Federball” (Ullstein, 350 Seiten, 22 EUR) heißt, ist nach

Ullstein, 350 Seiten, 22 EUR

herkömmlichen Maßstäben unmöglich, irreführend. Aber ist Federball, eigentlich Badminton, nicht auch ein kampfbetonter, fintenreicher Sport? So gesehen, ist dem englischen Schriftsteller John le Carré (88) eine wunderbare Metapher für das Wirken der Geheimdienste gelungen. Federball spielend und sich darin häufig duellierend, lernt der Geheimdienstler Nat den undurchsichtigen Ed kennen. Fintenreich ist auch das ernsthafte Spiel zwischen englischen, russischen und amerikanischen Geheimdiensten in diesem Buch. Wozu sind sie da, diese Dienste? Wem dienen sie überhaupt? Übrigens hat le Carré, wütender Brexitgegner und begeisterter Europäer, in Ed sein Sprachrohr: „Entweder ist Europa am Arsch oder jemand mit Eiern in der Hose findet ein Mittel gegen Trump.” Die Mischung von Action und solchen Erkenntnissen machen für mich „Federball” zu einem Wahnsinnsroman.

Klaus Wilke

 

 

 

 

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