„Auf diesem großen kleinen Raumschiff namens Erde”

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S. Fischer, 205 Seiten, 22 EUR

Viermal gefesselt, das lässt einen nicht los. Diese Erfahrung kann man mit guter, eben „fesselnder” Urlaubslektüre machen. Das trifft – immer in irgendeiner Weise – auf die folgenden vier Bücher zu. Zum Beispiel auf „Die Linie zwischen Tag und Nacht” von Roland Schimmelpfennig (S. Fischer, 205 Seiten, 22 EUR). Roland Schimmelpfennig ist Deutschlands meistgespielter Theaterautor der Gegenwart, der immerhin zum dritten Mal auf Prosa umgestiegen ist. Im Landwehrkanal Berlin treibt eine junge Frau tot, im Brautkleide und mit Rosen im Haar. Tommy, ein suspendierter Polizist und einst erfolgreicher Drogenermittler, zieht sie aus dem Wasser. Ihm selbst steht das Wasser bis zum Kinn Unterkante. Suspendiert ist er, weil er im Diensteinsatz einen Jungen überfahren hat. Ihm wird mehr vorgeworfen: Bestechlichkeit, Behinderung der Justiz, Drogenhandel usw. usw. Ein Prozess erwartet ihn, aber viel wichtiger ist ihm, der jungen Frau ihren Namen zurückzugeben. Zu ergründen, wer sie war, taucht Tommy ins Drogen- und Clanmilieu, sucht einstige Mitstreiter auf, puzzelt eine Menge Informationen zusammen. Für den Leser interessant und spannend das Bild von der Szene des heutigen Berlin. Dazu findet Schimmelpfennig einen theatralen Schluss, einen Ringschluss der besonderen Art.

Blumenbar, 222 Seiten, 20 EUR

Minu D. Tizabi machte bereits Schlagzeilen, als sie noch nicht daran dachte, Romane zu schreiben. Da war sie, 1992 geboren, mit 14 Jahren Deutschlands jüngste Abiturientin und mit 22 die jüngste Ärztin. Eine Menschenärztin, meine ich, wenn ich darüber nachdenke, mit wie viel Einfühlung und Verständnis sie die Figuren in ihrem ersten Roman „Revolution morgen 12 Uhr” (Blumenbar, 222 Seiten, 20 EUR) gestaltet. Aus unterschiedlichen Gründen  in die Psychiatrie eingewiesen, plaziert sie ihre Helden in ihrem Denken und Handeln mitten im Alltag. Da wieder rauszukommen, ist ihr größter Traum. Ihr Held – der mit seinen Eltern völlig quer liegt, weil sie ihn als „Schandfleck” ansehen  – bekommt täglich mysteriöse Anrufe aus Paris, die geheimnisvolle Rätsel enthalten.  Sie führen nach Berlin und nach Paris. Mit Freunden macht er sich auf einen abenteuerlichen Weg. Natürlich trifft er dabei mit seinen Eltern zusammen und erklärt ihnen, dass sich das mit dem „Schandfleck” ganz anders verhält. „Auf diesem großen, kleinen Raumschiff namens Erde” mache sich zum „Schandfleck”, wer andere ausschließt. Was ich an diesem Debütroman besonders schätze, ist seine burschikose Sprache: Schon tausend Mal Gesagtes erhält eine ganz neue Intonation.

dtv, 160 Seiten, 20 EUR

„Tasso im Irrenhaus” (dtv, 160 Seiten, 20 EUR) heißt der neue Erzählungsband von Ingo Schulze. Die drei Texte sind Kunst-Geschichten, die sich Anregungen aus der Kunstgeschichte holen und damit ganz gegenwärtige Impulse über den Umgang mit Kunst vermitteln. Ob es um Delacroix‘ Tasso-Gemälde geht, um die Installation „Deutschlandgerät” von Reinhard Mucha oder um das Ansinnen eines todgeweihten Malers (Johannes Grützke) an den Autor, über eines seiner Bilder zu schreiben, immer setzt diese Ansiedlung der Texte zwischen Fiction und Faktischem den Leser in ein Spannungsfeld, dessen Koordinaten Kunst und Wirklichkeit sind.

Aufbau, 224 Seiten, 19,50 EUR

Fasziniert bin ich wieder von der Erzählkunst der österreichischen Autorin Barbara Frischmuth. Der neue Band trägt den Titel „Dein Schatten tanzt in der Küche” (Aufbau, 224 Seiten, 19,50 EUR). Da über Männer genug geschrieben wurde und wird, ist ihre Meinung, sei es angeraten, vorrangig über Frauen zu schreiben. Im Alltagsgeschehen auf dem großen, kleinen Raumschiff namens Erde findet sie die kleinen, in der Öffentlichkeit oft gar nicht wahrgenommenen, aber hochdramatischen Geschichten, die Leben verändern oder gar zerstören. Sie ist eine Meisterin der ersten Sätze. Der erste Satz ist oft die Fessel, die an das Buch bindet. Ein Flüchtlingsschicksal beginnt so: „Sie wurde angeschwemmt.” Eine Familiengeschichte: „Leo war zu einer anderen Frau gezogen, nach fünfundzwanzig Jahren.”

Klaus Wilke

 

 

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