„Was da herankriecht droht, uns zu vernichten”

0

Aufbau, 384 Seiten, 24 EUR

Was war vor exakt hundert Jahren? Eine Frage, die immer wieder zu Beginn eines neuen Jahres bewegt. Das Sachbuch „1920 – Nullpunkt des Seins” von Wolfgang Martynkewicz (Aufbau, 384 Seiten, 24 EUR) ist da ein wunderbares Zeitreise-Vehikel. Es macht Station, wo kühne, absurde und gefährliche Gedanken in die Welt gesetzt wurden. Da schlägt der Schriftsteller Alfred Döblin in einem Roman vor, Grönland zu enteisen, um einen neuen Garten Eden zu schaffen. Der Psychologe C. G. Jung malt ein Horrorszenarium von Migranten: Die Afrikaner kommen. Während die Weimarer Verfassung erstmals die Gleichberechtigung von Mann und Frau festschreibt, fordern linke Eiferer, Ehe und Familie zu liquidieren. Ein großer Teil der Gesellschaft setzt auf Spaß und Jux und Dallerei statt traditioneller Kultur. Politiker von entgegengesetzten extremen Lagern üben sich in der Manipulation der Massen. Politische Morde werden fast alltäglich. „Was da herankriecht droht, uns zu vernichten”, warnen ernst zu nehmende Intellektuelle. Wem bei diesen Sätzen das Jahr 2020 in den Sinn kommt, dem geht es wie mir beim Lesen dieses Buches. Ja, es lädt zum Nachdenken und Vergleichen ein, zum Aha oder Ach nein. Ein Lernprozess, dessen Spannung und Unterhaltsamkeit kaum zu überbieten sind.

Als in gleichem Maße anspruchsvoll, zu Herzen gehend, den Handlungsfluss und die Erinnerungen

Luchterhand, 350 Seiten, 22 EUR

einbeziehend, erweist sich der Roman „Herkunft” von Saša Stanišić (Luchterhand, 350 Seiten, 22 EUR). Der Autor, Jahrgang 1972, seit 28 Jahre in Deutschland lebend, erzählt von seiner Kindheit in Jugoslawien, von der Sehnsucht nach seiner Heimat und dem Gewinn neuer Heimat. Es ist ein Erzählwerk (kein Roman) von ungeheurer Suggestivkraft und essayistischer Vielfalt. Worüber sich Saša Stanišić alles so Gedanken macht: um die Demenz der Großmutter, um den Dichter Joseph von Eichendorff, über die Landschaft um Heidelberg und die Jungsclique, über die Flüsse Drina und Neckar. Ein Buch, so fein geschrieben wie selten eines, dabei gedankenreich und geschichtenreich und von einer unaufdringlichen Aktualität.

Der russische Schriftsteller Daniil Granin nannte das 20. Jahrhundert das

Rowohlt, 430 Seiten, 24 EUR

„Jahrhundert der Angst” und meinte besonders die blutige Diktatur Stalins und seiner Helfershelfer. Nun liegt ein eindringlich erzählter deutscher Roman vor, der jedem unter die Haut gehen muss: „Metropol” (Rowohlt, 430 Seiten, 24 EUR). Ein Tatsachenroman; Ruge geht der Leidensgeschichte seiner Großeltern im sowjetischen Eil nach. Sie waren überzeugte Kommunisten und trotzdem (oder teuflischer weise: deswegen?) in das Räderwerk des Großen Terrors 1936 bis 1938, mit dem Stalin Millionen einstiger Mitkämpfer, die der Utopie einer besseren Welt gläubig folgten, aus dem Weg räumte. Gefangen im Zimmer 479 des Hotels Metropol warten sie auf ihr Urteil. Vor Angst knistert das Papier des Buches. Das liegt auch daran, dass Ruge die authentischen Terrorpersonen aufmarschieren lässt. Ein bedrückendes Historienpanoptikum.

btb, 638 Seiten, 22 EUR

1881 – 1962 – 2064. So weit spannt sich der Erzählbogen in dem Roman „Die Letzten ihrer Art” von Maja Lunde (btb, 638 Seiten, 22 EUR). Die norwegische Autorin legt damit den dritten Band ihres geplant vierbändigen Umweltzyklus vor. Zuvor hatte sie an Hand der Geschichte(n) der Bienen und des Wassers die Gefahren aufgezeigt, die der Mensch durch sein anthropozentrisches Handeln der Natur aufbürdet. Diesmal geht es um die Rettung von Wildpferden, die zu Tausenden vom Aussterben bedrohter Arten und Gattungen zählen. Der Titel ist doppeldeutig: Drohen nicht auch die Menschen im fortschreitenden 21. Jahrhundert zu den „Letzten ihrer Art” zu werden?

Klaus Wilke

Teilen.

Hinterlasse eine Antwort