Das Lied von der Duldsamkeit

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Es sein zunächst noch einmal daran erinnert, dass einige Programme nur bis zum Ende des ursprünglich geplanten physischen Festivals gestreamt werden können, also bis Sonntag, den 13. Dezember. Die Hinweise befinden sich auf der Programm-Seite des Festivals unter „Filme im Stream“. Hierzu zählen neben der polnischen Serie „People and Gods“ (Artikel folgt) auch der erste und der letzte der Filme, die ich euch heute vorstellen will. So also auch (aus der Sektion Russkij Den)

HOMO SPERANS

Die Noblesse des Saals beeindruckt bei jedem Besuch

von Andrej Kontschalowski. Der seit den sechziger Jahren erfolgreiche Filmemacher aus Russland versucht nichts weniger, als ein allgemeingültiges Bild der russischen Seele auf die Leinwand zu bringen. Es ist ihm gelungen.

Der Begriff „Homo sperans“, von Ernst Bloch in die Philosophie eingeführt, verweist auf einen Menschen, der in Hoffnung, mit der Vision einer zukünftigen Verbesserung lebt. Der Originaltitel jedoch trifft es irgendwie besser. Er bedeutet: Der belastbare Mensch. Ich würde das zu duldsam ausweiten, und dann synchronisiert es sich wunderbar mit dem Porträt der Bewohner Russlands.

In zahllosen Interviews werden Menschen aus allen möglichen Winkeln des Landes befragt, aus Karelien, der Krasnodarsker Region im Süden und den Weiten Sibiriens. Sie äußern sich zu Themenkomplexen wie „Was ist der Sinn des Lebens?“, „Gibt es Gott?“, „Was ist Glück?“ etc.  Nicht nur beim Thema Demokratie gehen die Aussagen weit auseinander. Hier heißt es u. a. „Wir haben Demokratie und das ist gut so.“ „Das ist kein russisches Wort, also brauchen wir das auch nicht.“ „Wir brauchen einen Zaren, das wäre die beste Demokratie.“

Das rasant geschnittene Interview-Mosaik wird immer wieder von langsameren Passagen kontrastiert, in der einzelne Personen etwas genauer vorgestellt werden: Ein Pope, ein YouTuber, eine Krankenschwester, ein Visionär, der eine nur aus Programmierern bestehende Gemeinde gegründet hat usw.

Entstanden ist – mit einem ungemein erhellenden Epilog in Schrift – ein kluger, einnehmender Film, der uns einen tiefen Einblick in Gemüt und Mentalität des Riesenvolkes gewährt. Duldsam oder belastbar ist auch die

BEANPOLE (BOHNENSTANGE)

Das Kino „Sieg“ in Orscha, Belarus

im gleichnamigen Film von Kantemir Balagow (Sektion Clos up World War II). Im Leningrad kurz nach dem dortigen Ende des Krieges will Mascha, die beste Freundin der Bohnenstange, nichts sehnlicher als ein Kind. Dies wäre ihr Weg, die seelischen Wunden aus dem Krieg vernarben zu lassen und zu überwinden.

Der Film ist ein überwältigendes Gemälde und meine dringendste Empfehlung aus dem diesjährigen Programm. Alles an diesem Film ist von phantastischer Qualität. Herausgehoben seien hier die (debütierenden) Darstellerinnen, das irre Dekor und insgesamt der Look, also die Cinematografie. Elegisch blasse Farbtöne wechseln mit Nahaufnahmen der Wände, die die beiden Freundinnen in Dunkelgrün und Rot gestrichen haben. Die Bildgestaltung erinnert an die historisierende Kamera bei Alexander Sokurow, und ist doch einem ganz eigenen Stil verpflichtet.

Selbstverständlich ist das Meisterwerk mit unzähligen Preisen bedacht worden, und so ist es einfach nur großartig, dass der Streifen sich auch im Programm des Cottbusser Filmfestes findet.

Duldsam sind auch die Akteure des türkischen Beitrags im Wettbewerb.

IN THE SHADOWS

von Erdem Tepegöz zeichnet eine finstere Welt auf kleinstem Raum. In einem Bergwerk arbeiten Menschen in schäbiger Kleidung, ihr Essen ist rationiert, und sie wohnen in primitiven Baracken. Allerorts werden sie von Kameras überwacht. Einer von ihnen (mit dem großartigen Gesicht von Numan Acar) will dem dunklen System, in dem sie alle sich befinden, auf den Grund gehen, nachdem er entdeckt hat, dass eine der Kameras nicht mit irgendetwas verbunden ist, die Kabel-Anschlüsse gehen ins Leere …

Der kafkaeske Science-Fiction erweckt Assoziationen an die Literatur der Strugatzki-Brüder und Stanisław Lems und hält in morbider Bildgewalt die subtile Spannung bis zum Schluss aufrecht.

Henning Rabe

  1. 12. 20

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